UFZ-Thema des Monats Mai

Biodiversität und Ethik

"Warum glauben Sie, dass Biodiversität gut ist?". Diese Frage wurde einem der Begründer der amerikanischen Naturschutzforschung, Michael Soulé, in einem Interview gestellt. Seine Antwort war bemerkenswert. Statt von den Notwendigkeit der Biodiversität für das menschliche Überleben oder für das Funktionieren von Ökosystemen sprach Soulé darüber, dass diese Überzeugung zunächst eine Intuition von ihm sei, dass er Diversität liebe: "Ich liebe es, ein weites Spektrum von Arten und Lebensräumen zu sehen. Es ist eine ästhetische Erfahrung, und es ist schwer zu definieren, was der Unterschied zwischen ästhetisch und spirituell ist." Dies ist eine bemerkenswert offene und ehrliche Antwort, und sie wird wahrscheinlich von sehr vielen Menschen geteilt, auch von sehr vielen Wissenschaftlern, die sich mit Biodiversität befassen. Es sind nicht nur ökonomische und "ökologische" Gründe, die uns die biologische Vielfalt schützen lassen. Es geht vielmehr auch um Werte und damit um Ethik.

Orchideenwiese

"Natürliche Sukzession zur Wald-Wildnis, Orchideenwiese, oder Gewerbegebiet?" Die Abwägung zwischen diesen Alternativen ist weder eine, die nur auf der Basis Nutzenkategorien getroffen werden sollte, noch eine, bei der von vornherein die höchste Vielfalt an seltenen Arten (hier: Orchideen) den Vorzug hat. Verschiedenste Werte geraten hier in Konflikt zueinander: ästhetische, emotionale, ökonomische, moralische.
Foto: Karl Heyde

Ethische Argumente beim Schutz und der Nutzung von Biodiversität reduzieren sich häufig nur auf einen Eigenwert der Natur (oder der Biodiversität). Das greift zu kurz. Worum geht es in der Ethik allgemein? Sie beschreibt und analysiert die Frage nach dem moralisch guten oder schlechten Handeln - im Umgang der Menschen untereinander, aber auch im Umgang mit der Natur. Eine Umwelt- oder Naturschutzethik bewegt sich daher nicht im Gegensatz zur etablierten rein auf den Menschen bezogenen Ethik, sondern ergänzt und erweitert sie. Und somit haben Argumente, die für den Schutz der Biodiversität sprechen und damit dem Überleben der Menschen dienen, eine moralische Dimension. Diese so genannte anthropozentrische Position ist legitimer Gegenstand einer (Umwelt)ethik.

Die moderne Biodiversitätsdebatte wurde in den 1980er Jahren aus Sorge um die Erhaltung der Natur und das menschliche Überleben initiiert. Der entscheidende Ausgangspunkt hierzu war eine von Ökologen und Naturschutzbiologen (u.a. Walter G. Rosen, Michael Soulé und Edward O. Wilson) initiierte Konferenz, das "National Forum on BioDiversity", das 1986 in Washington stattfand. Im Rahmen der Konvention über die Biologische Vielfalt (CBD) erfuhr die Debatte zudem eine Ausweitung, die auch Fragen der globalen Gerechtigkeit umfasste: Wie kann der "Mehrwert" der aus dem Schutz und der Nutzung von biologischer Vielfalt entsteht, fair verteilt werden, zwischen armen, aber biodiversitätsreichen Staaten und den wohlhabenden Staaten des Nordens. Ein Beispiel einer solchen Nutzung sind tropische Regenwälder, die als Lieferant von aus Pflanzen gewonnenen Medikamenten oder als Kohlenstoffsenke zur CO2-Reduktion infrage kommen.

Ethische Argumente im Zusammenhang mit dem Schutz und der Nutzung von Biodiversität sind weder das "Sahnehäubchen" auf einer rein nutzenorientierten Argumentation, noch sind sie - wie manchmal von Naturschutzseite erhofft - die absolute Lösung aller Naturschutzkonflikte zugunsten "der" Natur. Aspekte der Ethik durchdringen - oft unbewusst - die meisten Debatten über den Schutz der Biodiversität. Sie verstecken sich hinter mancher scheinbar rein wissenschaftlichen Argumentation. Ein Bewusstmachen der normativen Aspekte in solchen Debatten und eine klarere Unterscheidung zwischen Werten und Fakten kann wesentlich zu einer transparenten und abgewogenen Behandlung von Naturschutzfragen beitragen und erweitert den Raum für Argumente, die sonst nur unterbewusst eingehen. Ein Beispiel veranschaulicht das.

Muss der Biber sterben? Streit um einen Exoten auf Feuerland

Das sonst so seriöse Fachblatt "Nature" überschrieb im Jahr 2008 einen Artikel in fetten Lettern mit dem Titel: "Tierra del Fuego: the beavers must die" - "Feuerland: Die Biber müssen sterben". Gegenstand des kurzen Aufsatzes war die Diskussion um eine geplante Ausrottung des Kanadischen Bibers im Feuerland-Archipel. Der Kanadische Biber hat sich seit den 1940er Jahren - nachdem er aus der Pelzzucht ausgesetzt wurde - auf Feuerland und auf anderen Inseln des Archipels erfolgreich ausgebreitet. Wie Biber es immer tun, haben die Tiere ihre Umgebung kräftig umgestaltet: Sie haben Bäume gefällt und Gewässer aufgestaut. Im geringen Ausmaß verursachte der Biber ökonomische Schäden in der sehr dünn besiedelten Gegend. Andererseits ist er aber auch eine Touristenattraktion und wird in einigen Restaurants der Region als neue Spezialität auf der Speisekarte geführt.

Vater und Sohn halten Biber als Haustier, Navarino, Chile

Auf der Insel Navarino, Chile wird der Biber als eingewanderte Art bekämpft, während einige Familien den Biber als Haustier halten.
Foto: André Künzelmann/UFZ

Biberburg auf Navarino, Chile

Biberburg auf der Insel Navarino in Chile. Biber gestalten ihre Umgebung kräftig um. Sie fällen Bäume, bauen Dämme und stauen Gewässer auf. Im geringen Ausmaß verursachte der Biber ökonomische Schäden in der sehr dünn besiedelten Gegend.
Foto: André Künzelmann/UFZ

Es sind aber vor allem Biologen und Naturschützer, welche die Tiere als Problem ansehen und Alarm geschlagen haben. Gemeinsam mit der staatlichen Landwirtschaftsbehörde wurde ein massives Ausrottungsprogramm beschlossen. Die Diskussion über den Umgang mit exotischen Arten - hier dem Biber - wird gerade von vielen Naturschützern sehr emotional geführt. Wissenschaftler führen an, dass der Biber auf Feuerland das ursprüngliche Ökosystem der Region verändert hat und dadurch ein Problem darstellt. Ist er aber wirklich ein Problem? Können das naturwissenschaftliche Forschungen beurteilen? Und das angesichts der Tatsache, dass sich die Tiere nun seit 60 Jahren in der Region etabliert und beispielsweise auf der chilenischen Insel Navarino praktisch jeden möglichen Lebensraum besiedelt haben. Welche Auswirkungen auf die inzwischen dort vorhandenen Organismen und Ökosysteme wird eine Ausrottung des Bibers haben - wenn sie denn in dem unwegsamen Gebiet überhaupt gelingt?

Naturwissenschaftliche Forschung kann nur beschreiben, sie kann de facto nicht bewerten, ohne ihre eigene Selbstbegrenzung als "wertfreie Wissenschaft" zu überschreiten. Hier ist der Punkt, an dem ethische Forschung ansetzt und an dem gesellschaftliche Entscheidungsprozesse eingehen. Solche Entscheidungsprozesse sind nie nur von reinen Kosten-Nutzen-Abwägungen geprägt. Sie werden auch immer von einem großen Spektrum von Werten mit bestimmt. In diesem Sinne kann es auch keine "ökologischen" Begründungen für den Schutz von Biodiversität (oder den Naturschutz generell geben). Ökologische Argumente sind nur ein Teil einer Argumentationskette, die sich auf bestimmte, von Menschen vertretene Werte und Interessen beziehen, wie die Erhaltung eines Ökosystems aus Gründen menschlichen Wohlergehens.

Michael Soulés oben geäußerte Intuition ist ein wichtiger Ausgangspunkt. Sie reicht jedoch nicht, wenn es darum geht, Konflikte zu lösen, argumentativ gerechtfertigte Abwägungen zu treffen. Etwa die, ob der Biber auf Feuerland ausgerottet, partiell ausgerottet oder als "Neubürger" geduldet werden soll. Hier ist der Platz für eine Naturschutzethik. Wie jede Ethik soll sie Argumente über das moralisch richtige Verhalten gegenüber der Natur klar und deutlich machen, und sie muss auf ihre Logik und Schlüssigkeit überprüfbar sein. Demnach sind Werthaltungen nicht einfach nur subjektive Vorlieben, sondern lebensleitende Einstellungen, die auch für das eigene Selbstbild und für Vorstellungen eines guten Lebens (man spricht auch von einer "Ethik des guten (oder gelingenden) Lebens") entscheidend sind. Sie können und müssen deutlich und Diskursen sowie Abwägungsprozessen zugänglich gemacht werden.

Wo fängt Umweltethik an, wo hört sie auf?

Innerhalb der Ethik existieren sehr unterschiedliche Positionen. Auf welche Wesen (oder gar Systeme und Dinge) muss der Mensch in seinen Entscheidungen Rücksicht nehmen? Ist die Ausrottung des Bibers gerechtfertigt, obwohl durch die Zerstörung und den Zerfall der Biberdämme nicht nur der Biber selbst, sondern auch zahlreiche andere nun in den Biberteichen lebende Organismen getötet werden? Rechtfertigen die Vorteile einer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes - falls er denn wiederherzustellen ist - und der Aufwand, der dafür getrieben wird, diese Konsequenzen? Die Fragen verdeutlichen die Komplexität der zahlreichen Abwägungsprozesse, die zu treffen sind - zwischen den Interessen unterschiedlicher Gruppen von Menschen und ihren Wertvorstellungen, aber auch zwischen den Interessen bestimmter Menschen und denen anderer Lebewesen. Die Umweltethik kann keine einfachen Antworten geben. Aber sie hilft, den Raum der Argumente aufzuweiten, zu strukturieren und die Debatte zu versachlichen. Sie kann Forschungsbedarf formulieren, der für vernünftige Abwägungsprozesse nötig wird, etwa um über die genauen Auswirkungen einer exotischen Art auf das Überleben einheimischer Arten zu entscheiden. Für den Fall des Bibers auf Feuerland bzw. speziell auf der Insel Navarino führten Wissenschaftler im Rahmen des BMBF-Projekts BIOKONCHIL eine Studie durch. Sie haben Wissen und Werte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Hinblick auf die biologische Vielfalt analysiert und für Entscheidungsprozesse nutzbar gemacht. Aus diesen Erfahrungen haben sie eine Methode für künftige ähnliche Studien entwickelt.

Biologische Invasionen - gut oder schlecht?

Die Diskussion zeigt sich auch grundsätzlich beim Umgang mit dem Thema der exotischen (und invasiven) Arten. Während generell eine hohe Artenvielfalt als positiv für den Naturschutz angesehen wird - direkt oder als Mittel zum guten Funktionieren von Ökosystemen, sehen viele Wissenschaftler eine Erhöhung der Artenzahl durch exotische Arten als negativ an; einige wissenschaftliche Publikationen behandeln exotische Arten sogar unter dem Begriff der "biopollution", also Bioverschmutzung. Gibt es gute und schlechte Biodiversität? Die Frage, welche exotischen Arten unter welchen Bedingungen als erwünscht oder unerwünscht angesehen werden, ist eine Frage der Wertung (einschließlich der Bewertung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu den Auswirkungen dieser Arten). Als solche muss sie Gegenstand gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse sein, die von philosophisch-ethischer Forschung unterstützt wird. Grundsatzfragen, wie die Begründung nach dem Wert von Biodiversität bedürfen der Verbindung zu sozialwissenschaftlichen Forschungen, welche den Werte-Kanon der Beteiligten in konkreten Entscheidungs- oder gar Konfliktsituationen zum Gegenstand haben.

Ausblick: Ökonomisierung der Biodiversität vs. Ethik der Biodiversität?

Die Frage nach der Rolle von ethischen Argumenten für den Schutz der Biodiversität hat neue Aktualität erhalten, seit dieser Schutz in einem Atemzug mit den ökosystemaren Dienstleistungen (ecosystem services) genannt wird. Das ist ein Ziel der im Entstehen begriffenen neuen Biodiversitätsstrategie der Europäischen Union. Insbesondere die stark ökonomische Ausrichtung des Konzepts der Ökosystemdienstleistungen hat manche Kritiker auf den Plan gerufen, die dadurch einen Ausverkauf der Natur befürchten und deshalb zumindest teilweise eine Rückkehr zu einem primär ethisch begründeten Schutz der Biodiversität fordern. Viele Vertreter des Ansatzes der Ökosystemdienstleistungen sehen die ethischen Dimensionen des Naturschutzes entweder in den so genannten kulturellen Dienstleistungen aufgehoben oder aber betrachten ethische Argumente (hier meist im Sinne von Eigenwertargumenten) als komplementär zur nutzenorientierten Begründung des Naturschutzes. Die Diskussion über das theoretische und praktische Verhältnis von Biodiversität, Ethik und Ökosystemdienstleistungen bleibt einstweilen offen und ist ein wichtiges Forschungsfeld für die Zukunft.

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Ausgewählte Publikationen zum Forschungsfeld Biodiversität und Ethik

Berghöfer, U., Rozzi, R. and Jax, K. (2010). Many eyes on nature - diverse perspectives in the Cape Horn Biosphere Reserve and their relevance for conservation. Ecology and Society, 15(1): 18. [online] URL: http://www.ecologyandsociety.org/vol15/iss1/art18/.

Bobbert, M., Düwell, M. and Jax, K. (Eds.) (2002). Umwelt, Ethik und Recht, Tübingen: Francke-Verlag.

Haider, S. and Jax, K. (2007). The application of environmental ethics in biological conservation: a case study from the southernmost tip of the Americas. Biodiversity and Conservation, 16, 2559-2573.

Jax, K. (2002). Warum soll Biodiversität geschützt werden? Das Problem der Bewertung der Biodiversität aus umweltethischer Sicht. Laufener Seminarbeiträge 2/02, 125-133.

Jax, K. (2003). Wofür braucht der Naturschutz die wissenschaftliche Ökologie? Die Kontroversen um den Hudson River als Testfall. Natur und Landschaft, 78, 93-99.

Jax, K. (2010). Ecosystem functioning, Cambridge: Cambridge University Press (erscheint Oktober 2010).

Jax, K. and Rozzi, R. (2004). Ecological theory and values in the determination of conservation goals: examples from the temperate regions of Germany, USA and Chile. Revista Chilena de Historia Natural, 77, 349-366. (auch abgedruckt in: Nelson M. P. & J. B, Callicott (Hrsg.)(2008), The wilderness debate rages on. S. 664-691. - Athens, Georgia: University of Georgia Press).