Kurzinformation vom 30. Oktober 2024

"Wir wollen Pioniere sein"

Katrin Böhning-Gaese im Interview über die Pläne, die sie als frisch berufene Wissenschaftliche Geschäftsführerin mit dem UFZ hat - und über die Nachteile ihres neuen Büros.

Prof. Katrin Böhning-Gaese Foto: Sebastian Wiedling / UFZ
Prof. Katrin Böhning-Gaese
Foto: Sebastian Wiedling / UFZ

Frau Böhning-Gaese, wann hatten Sie zuletzt ein Fernglas in der Hand?

(lacht) Bei uns Ornithologen ist es eine déformation professionelle, dass wir immer ein Fernglas mit uns herumtragen - in jedem Urlaub und sogar bei jedem Spaziergang. Und hier am UFZ muss ich mich immer zwingen, auf den Bildschirm zu schauen.

Wieso das denn?

Wegen des Vogelzugs: Mein Büro ist im obersten Stock eines Gebäudes im Wissenschaftspark Leipzig untergebracht, und da kommen gerade die Stare vorbei und die Mehlschwalben. Ich könnte hier den ganzen Tag einfach nur Vögel beobachten.

Haben Sie dieses Faible für Vögel von Kindesbeinen an?

Nein, und sogar im Studium habe ich mich erst einmal in Richtung Neurowissenschaft und Immunbiologie orientiert. Zur Ornithologie kam ich in der Diplomarbeit, was eigentlich schon fast zu spät ist. Dann hat es mich aber richtig gepackt: Ich habe eine ganze Saison lang mit Weißstörchen verbracht, von der Ankunft aus Afrika bis zum Abflug. Jeden Tag war ich draußen und habe sie beobachtet - die Aufzucht der Jungen, die Futtersuche, die Schlechtwettereinbrüche.

Gerade haben Sie Ihr neues Amt als Wissenschaftliche Geschäftsführerin des UFZ angetreten. Profitieren Sie dabei von diesen Erfahrungen aus dem Feld?

Davon bin ich überzeugt. Eine wichtige Lehre habe ich aus den USA mitgenommen: Da wollte ich eigentlich weiter Vögel studieren, aber bin dann in den damals völlig neuen Bereich der Makroökologie geraten. Mich faszinierte der Ansatz, dass man nicht im Detail ein System nach dem anderen untersucht - also zum Beispiel jede Tierart einzeln -, sondern die großen Muster über die Erde hinweg betrachtet. Aber ich habe ebenso gemerkt: Würde man die Systeme nicht kennen, könnte man nicht die richtigen Fragen stellen. Genau das gilt sicher auch für meine Tätigkeit am UFZ.

Lassen Sie uns konkreter werden: Wie genau profitieren Sie am UFZ von diesen Erfahrungen?

Ich habe gelernt, als Naturwissenschaftlerin die Antworten nicht alleine zu suchen. Man muss interdisziplinär arbeiten, etwa mit den Sozialwissenschaften. Und das ist es übrigens, was mich am UFZ fasziniert…

…nämlich?

Mit seiner inhaltlichen Breite, seinem integrativen Forschungsansatz, der gelebten Interdisziplinarität und dem erfolgreichen Transfer von Wissen und Technologie in die Gesellschaft ist das UFZ schon sehr weit. Das begeistert mich unheimlich. Und obwohl ich ja viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom UFZ aus meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit schon kannte, entdecke ich jeden Tag neue Leuchttürme und hochspannende Verknüpfungen.

Das hört sich fast so an, als hätten Sie gar nichts mehr zu tun.

(lacht) Natürlich bringe ich viele Ideen mit, um das UFZ weiterzuentwickeln. Ein Beispiel: Ich würde gern die Schnittstellen zur Gesellschaft noch weiter stärken - sowohl Richtung Politik, als auch Richtung Wirtschaft und breite Öffentlichkeit. Denn in vielen Bereichen, in denen es Probleme gibt - etwa beim weltweiten Artenschwund, der Anpassung an den Klimawandel oder auch beim Umgang mit Wassermangel oder -verschmutzung - haben wir vor allem ein Umsetzungsdefizit. Die Frage ist also, wie bringen wir das Wissen dorthin, wo es gebraucht wird? Und wie können wir die Veränderungen so anstoßen, dass die Menschen sie gern mittragen? Ich bin überzeugt davon, dass die klassischen Kommunikationswege dafür nicht ausreichen. Wir müssen viel mehr als bislang in einen Austausch kommen und uns viel Zeit dafür nehmen, erst einmal zuzuhören: Wo drückt der Schuh eigentlich, wo sind die Probleme? Vielleicht ändert sich dadurch auch die eine oder andere wissenschaftliche Fragestellung - und gewinnt dadurch eine ganz andere Relevanz.

Wie wird sich die Arbeit des UFZ dadurch ändern?

Wir haben ja schon unheimlich viele Schnittstellen mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft, etwa in den verschiedenen Reallaboren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die dort aktiv sind, nehmen die Rückmeldungen ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner schon in ihre Forschung auf. Ich würde mir wünschen, dass wir diesen Ansatz im UFZ stärken und unsere Schnittstellen auf den verschiedenen Ebenen pflegen - im lokalen Kontext ebenso wie auf europäischer und internationaler Ebene. Damit diese Ideen mit dem Haus und den 1.200 Menschen zusammenpassen, werde ich einen Strategieprozess starten, in dem wir uns gemeinsam mit genau diesen Fragen beschäftigen: Welches sind die Zukunftsthemen, die wir im UFZ angehen wollen? Und welche Rollen sollen wir darin übernehmen?

Ist es denn tatsächlich die Wissenschaft, die jetzt am Zug ist? Wenn wir uns etwa das Schlagwort der planetaren Grenzen anschauen, also der gewaltigen Über-Belastung der Ökosysteme - darüber gibt es doch bereits unheimlich viel Wissen und es mangelt vor allem am entsprechenden Handeln.

Offen gestanden, hadere ich sehr stark mit dem Konzept der planetaren Grenzen. Es beschreibt, wie sich Erdsysteme verändern, und dahinter steht die Hypothese, dass es Kipppunkte gibt, nach deren Überschreiten es keinen Weg zurück mehr gibt. Ein positives Ergebnis dieses Konzepts ist, dass sich viele Menschen bewusst gemacht haben, dass der Planet eine Grenze hat und man nicht einfach weiterwirtschaften kann wie bisher. Der Nachteil aber ist, dass es die Leute ratlos zurücklässt. Wenn sechs von neun planetaren Grenzen überschritten sind - was bedeutet das für mich und mein persönliches Leben? Gerade bei vielen jungen Leuten löst das, zusammen mit der Klimaangst und dem Artensterben, tiefe Verzweiflung aus.

Was schlagen Sie also vor?

Wir brauchen ein Konzept der planetaren Lösungen. Wir in der Wissenschaft sollten erarbeiten, was Lösungswege sind, um ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen zu führen - und zwar für alle Menschen, ob hier bei uns oder im Globalen Süden, ob wohlhabend oder weniger wohlhabend.

Das ist ein hoher Anspruch. Wie geht das konkret?

Wir wissen alle, dass viele Probleme miteinander zusammenhängen. Wenn ich also auf den Äckern in großem Maßstab Energiepflanzen anbaue, geht damit oft Biodiversität verloren und es gibt eine Konkurrenz mit dem Anbau von Nahrungsmitteln. Diese Zusammenhänge kennt inzwischen fast jeder. Was aber gern übersehen wird: Auch die Lösungen hängen miteinander zusammen. Nicht nur die Probleme sind systemisch, sondern auch die Lösungen. Wenn ich also Wälder renaturiere, ist das gut für die Artenvielfalt, aber auch für das Klima.

In welcher Rolle sehen Sie das UFZ dabei?

Ich wünsche mir, dass wir mit unserer exzellenten Wissenschaft positive Entwicklungspfade aufzeigen. Ein Beispiel: Vor kurzem wurde von der EU das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur verabschiedet, das Nature Restoration Law (NRL). Dafür sollen auf 20 Prozent der Flächen zu Lande und im Meer Maßnahmen eingeleitet werden, um die Ökosysteme zu stärken. Auch bestimmte wichtige Lebensraumtypen, die sich in schlechtem Zustand befinden, sollen wiederhergestellt werden; bis 2030 mindestens 30 Prozent, bis 2040 60 Prozent und bis 2050 90 Prozent. Da sollten wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das notwendige Wissen zur Verfügung stellen. Das ist bisher nur in Ansätzen vorhanden. Zusätzlich gilt auch hier, die Veränderungen auf eine Art zu gestalten, dass die Menschen sie gern mittragen und nicht vor den Kopf gestoßen sind. Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten uns als Pioniere, Vermittler, aber auch Katalysatoren für gesellschaftliche Veränderungen begreifen.

Eines Ihrer Steckenpferde ist ein Modellprojekt zur Vogeldiversität, das Sie ans UFZ mitbringen. Worum geht es da?

Es geht um konkrete Lösungen, um Biodiversität zu fördern. Hintergrund sind zwei neue Regulierungen: Große Unternehmen müssen seit diesem Jahr über ihren Biodiversitäts-Fußabdruck berichten. Die eine Herausforderung für sie ist, den Fußabdruck über die gesamte Lieferkette hinweg zu messen. Die andere Herausforderung ist, diesen Fußabdruck zu verbessern. An dieser Stelle setzt das Modellprojekt an: Während wir schon verschiedene Messinstrumente wie den Feldvogel- oder den Waldvogel-Indikator zur Verfügung haben, fehlt es noch an konkreten, belastbaren Indikatoren, mit denen Maßnahmen zur Verbesserung der Vielfalt an Vögeln bewertet werden können.

Das hätte ja Einfluss auf zahlreiche Branchen.

Genau, denken Sie nur an die Finanzbranche. Dort gibt es eine große Nachfrage nach Investitionen, die die Biodiversität erhöhen - aber es ist schwierig, entsprechende Produkte anzubieten, weil es an Daten und Modellen fehlt, um sie zuverlässig zu bewerten. Und Anbieter wollen den Anschein vermeiden, bloßes Greenwashing zu betreiben. Wir wollen Maßnahmen identifizieren, bei denen man ganz konkret sagen kann: "Wenn ich diesen Fonds kaufe, sind nachher in Brandenburg mehr Feldlerchen oder mehr Kiebitze auf den Feldern."

Bislang haben Sie in Frankfurt gelebt. Werden Sie nach Leipzig umziehen? 

Ja, ich ziehe zusammen mit meinem Mann hierher. Noch sind wir auf Wohnungssuche. Und neben allen beruflichen Vorsätzen habe ich auch einen für meine Freizeit gefasst: Ich schätze gute Weine und will das nächstgelegene Weingebiet gründlich erkunden, nämlich Saale-Unstrut. Mit dem Regionalzug ist man in weniger als einer Stunde dort.

Ein mineralischer Wein - die Reben wachsen auf Muschelkalk.

Sehen Sie, und das finde ich einen besonders tollen Zufall: Aufgewachsen bin ich nämlich auf der Schwäbischen Alb, und da ist die Landschaft ebenfalls von Kalk geprägt. Umso gespannter bin ich auf die Entdeckungen hier in der Natur rund um Leipzig.

Das Interview führte Kilian Kirchgessner

Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese ist seit September die Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig und seit 2010 Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt. Bis August 2024 war die Biologin Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klimaforschungszentrums in Frankfurt am Main. Ihr Studium absolvierte sie in Tübingen mit Forschungsaufenthalten in den USA. Sie ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und erhielt für ihre Arbeit zahlreiche hochkarätige Auszeichnungen wie den Deutschen Umweltpreis.


Weitere Informationen

UFZ-Pressestelle

Susanne Hufe
Telefon: +49 341 6025-1630
presse@ufz.de


Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt und erarbeiten Lösungsoptionen. In sechs Themenbereichen befassen sie sich mit Wasserressourcen, Ökosystemen der Zukunft, Umwelt- und Biotechnologien, Chemikalien in der Umwelt, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg circa 1.100 Mitarbeitende. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

www.ufz.de

Die Helmholtz-Gemeinschaft identifiziert und bearbeitet große und vor allem drängende Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Ihre Aufgabe ist es, langfristige Forschungsziele von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Damit sollen die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten und sogar verbessert werden. Helmholtz besteht aus 19 naturwissenschaftlich-technologischen und medizinisch-biologischen Forschungszentren.

www.helmholtz.de
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