Interview vom 19. Juni 2025
Politikberatung in Zeiten alternativer Fakten
„Wissenschaft hat den Auftrag, wissenschaftliche Fakten in die Diskussion einzubringen“
Um den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten und die globale Erwärmung einzudämmen, sind politische Weichenstellungen erforderlich. Diese lösen jedoch oft Widerstand und öffentliche Debatten aus, in denen auch mit alternativen Fakten argumentiert wird. Wie können Wissenschaftler:innen darauf reagieren und den Einfluss von Fehlinformationen auf die Politik reduzieren? In einem Meinungsbeitrag für das Fachjournal People and Nature analysiert ein interdisziplinäres Forschungsteam die Rolle von Wissenschaftler:innen anhand von zwei Verordnungen, die die EU-Kommission im Jahr 2022 als Teil des Green Deal vorgeschlagen hatte: die Verordnung über die Wiederherstellung der Natur (Nature Restoration Regulation, NRR) und die Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (Sustainable Use Regulation, SUR). Der Hauptautor des Artikels, Dr. Guy Pe'er, Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ und am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), dazu im Interview.
Welche Rolle spielten Wissenschaftler:innen in den Debatten über die EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur und die EU-Verordnung zur nachhaltigen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln?
Guy Pe’er: Das Vorfeld der beiden durch das EU-Parlament zu treffenden Entscheidungen war geprägt durch eine kontroverse öffentliche Debatte, in der Falschinformationen eine erhebliche Rolle spielten. Als uns das bewusst wurde, haben wir – Kolleg:innen verschiedener Fachrichtungen und Institutionen – überlegt, wie wir dem etwas entgegensetzen können. Daraus entstand die Idee, die Behauptungen, die gegen die EU-Verordnungen aufgestellt wurden, mit wissenschaftlichen Beweisen zu vergleichen und als offenen Brief zu veröffentlichen, um Fehlinformationen zu entlarven. Das Sammeln und das Zusammenfassen der Beweise waren der erste entscheidende Schritt, für den Expert:innen aus vielen Bereichen ihre Kräfte bündelten.
Unsere Initiative stieß bei vielen Kolleg:innen aus der Wissenschaft auf große Zustimmung. Schließlich unterzeichneten mehr als 6.000 Wissenschaftler:innen den Brief, den wir an Medien und politische Entscheidungsträger auf europäischer Ebene übergaben. Der Brief erzeugte viel Aufmerksamkeit. Wir wurden zu Treffen mit EU-Parlamentsmitgliedern zu Anhörungen eingeladen und sprachen auf öffentlichen Veranstaltungen und Debatten. Indem wir ausgewogene wissenschaftliche Evidenz und klare Argumente lieferten, haben wir versucht, die öffentliche Diskussion zu versachlichen – und ich bin der festen Überzeugung, es ist uns gelungen, die Polarisierung zu verringern.
Das EU-Parlament hat die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur letztlich angenommen, die Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln dagegen abgelehnt. Welche Rolle spielten dabei Fake News?
In unserer Studie haben wir die Genese der beiden Verordnungen analysiert. Die Menschen haben einen breiten Konsens bzgl. einer sehr positiven Einstellung zur Natur und sind sich daher einig, sie zu schützen. Die Argumentation ist relativ einfach: Wir brauchen die Natur, um zu überleben. Bei den Pestiziden lautet das gängige Narrativ dagegen: Wir brauchen einige Pestizide, um unsere Kulturpflanzen zu schützen und unsere Ernährung zu sichern, so dass die Menschen in der Verringerung des Pestizideinsatzes ein Risiko sehen. In der Praxis kann es kompliziert sein, Pestizide ohne Ertragseinbußen zu ersetzen. Infolgedessen sehen die Menschen die Reduzierung von Pestiziden als Risiko an, auch wenn die Realität anders aussieht. In einem solchen Umfeld ist es folglich einfacher, Desinformationen zu verbreiten, etwa indem Ernteverluste hervorgehoben werden, die tatsächlich lokal auftreten können, um so den Anschein zu wecken, dass eine groß angelegte Pestizidreduzierung die Ernährungssicherheit gefährden könnte.
Es gibt aber noch weitere Unterschiede. Die NRR legt aufgrund der Freiwilligkeit der Maßnahmen den Landwirten keine direkten Beschränkungen auf, während die Reduzierung von Pestiziden durch die SUR durchaus Einschränkungen zum Beispiel zur Art, Umfang und Zeitpunkt des Chemikalieneinsatzes erfordern würde. Deswegen war es hier leichter, Widerstände zu erzeugen und Wut bei den Landwirten zu schüren. Zudem hätte die SUR Ertragseinbußen für die agrochemische Industrie mit sich gebracht. Dagegen haben sich deren mächtige Lobbygruppen in Brüssel natürlich gewehrt – leider mit Erfolg im Fall des SUR.
Mit welchen pseudowissenschaftlichen Aussagen versuchten die Gegner der Verordnungen, die Entscheidungen der Politik zu beeinflussen?
Die meisten Desinformationen kamen von Lobbyverbänden aus den Bereichen Lebensmittel, Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft. So wurde beispielsweise behauptet, dass die Verordnungen die Lebensmittelproduktion verringern und damit die Ernährungssicherheit gefährden. Dies ist falsch: In Europa nutzen wir rund 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen für Tierfutter und Biokraftstoff, nicht für die direkte Ernährung der Bevölkerung. Tatsächlich produzieren wir mehr, als wir brauchen. Und wir exportieren viel, vor allem tierische Produkte wie Fleisch und Käse. Die eigentlichen Risiken für die Ernährungssicherheit gehen jedoch eher vom Klimawandel, von Dürren und Hochwasser, von der Bodendegradation und vom Rückgang von bestäubenden Insekten aus.
Behauptet wurde auch, dass durch die Verordnungen Arbeitsplätze verloren gehen, zum Beispiel in der Landwirtschaft oder Fischerei. Es sind jedoch nicht der Naturschutz oder die Wiederherstellung der Natur, die Arbeitsplätze vernichten, sondern vielmehr die technologische Entwicklung, der Großgrundbesitz sowie industrielle Formen der Landwirtschaft und der Fischerei, die Kleinerzeuger verdrängen. Die NRR und die SUR könnten vielmehr dazu beitragen, grüne Arbeitsplätze zu erhalten oder sogar neu zu schaffen – entgegen den Behauptungen derjenigen, die die Verordnungen scheinbar im Namen der Kleinbauern bekämpften.
Eine weitere Behauptung war, dass die Verordnungen die Landwirte überfordern würden, insbesondere angesichts der zahlreichen, derzeit herrschenden globalen Krisen wie etwa der Krieg in der Ukraine. Diese Behauptung lässt aber außer Acht, dass die Gesellschaft schon jetzt doppelt für das derzeitige EU-Agrarmodell zahlt: Einerseits bezahlen wir die Landwirte über die Gemeinsame Agrarpolitik, unabhängig davon, welches Geschäftsmodell sie verfolgen. Andererseits tragen wir alle die Folgen einer nicht nachhaltigen Landwirtschaft mit, also besonders die Schäden durch Agrochemikalien, die zu Gesundheitsrisiken, Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt und Verschlechterung der Wasserqualität führen.
Inwieweit ist es den Wissenschaftlern gelungen, Fake News mit Hilfe von wissenschaftlicher Evidenz zu widerlegen?
Unser Brief und unsere Argumente hatten Einfluss auf den gesamten Entscheidungsprozess bei der NRR. Wir haben dazu beigetragen, die Vorteile der NRR deutlicher zu machen. Wir haben zudem gesehen, dass unsere Argumente nicht nur von Umwelt-NGOs und Politiker:innen, die schon lange für die NRR kämpfen, aufgegriffen wurden, sondern auch von weiteren politischen Entscheidungsträgern wie etwa Mitgliedern der konservativen EVP-Fraktion. Die EVP hatte zwar mehrheitlich Zweifel an der NRR geäußert, aber schließlich haben sich einige Mitglieder für die Verordnung ausgesprochen, was zu deren Verabschiedung führte. Es ist bedauerlich, dass dies bei der SUR nicht der Fall war, obwohl die gegen die NRR und die SUR erhobenen Aussagen fast identisch waren.
Was könnten Wissenschaftler:innen daraus für künftige umweltpolitische Debatten lernen?
Das Beispiel der Verordnung zur Wiederherstellung der Natur zeigt, dass es sich für Wissenschaftler:innen lohnt, bei Fehlinformationen einzugreifen, wenn die Behauptungen in deren Fachgebiet liegen. In solchen Fällen haben sie nicht nur die Autorität, sondern sogar den Auftrag, für sich selbst zu sprechen und das von ihnen generierte Wissen zu vertreten, um proaktiv wissenschaftliche Fakten in die Diskussion zu bringen. Solange wir Wissenschaftler:innen unsere Rolle als Lieferanten von ausgewogener wissenschaftlicher Evidenz beibehalten, haben wir gute Chancen, dass man uns zuhört.
Publikation:
Guy Pe’er, Jana Kachler, Irina Herzon, Daniel Hering, Anni Arponen, Laura Bosco, Helge Bruelheide, Elizabeth A. Finch, Martin Friedrichs-Manthey, Gregor Hagedorn, Bernd Hansjürgens, Emma Ladouceur, Sebastian Lakner, Camino Liquete, Laura López-Hoffman, Isabel Sousa Pinto, Marine Robuchon, Nuria Selva, Josef Settele, Clélia Sirami, Nicole M. van Dam, Heidi Wittmer, Aletta Bonn: Role of science and scientists in public environmental policy debates: The case of EU agrochemical and nature restoration regulations, People and Nature, https://doi.org/10.1002/pan3.70064
Weitere Informationen
Dr. Guy Pe'er
UFZ-Department Biodiversity and People
guy.peer@ufz.de
UFZ-Pressestelle
Susanne Hufe
Telefon: +49 341 6025-1630
presse@ufz.de
Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt und erarbeiten Lösungsoptionen. In sechs Themenbereichen befassen sie sich mit Wasserressourcen, Ökosystemen der Zukunft, Umwelt- und Biotechnologien, Chemikalien in der Umwelt, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg circa 1.100 Mitarbeitende. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.
www.ufz.deDie Helmholtz-Gemeinschaft identifiziert und bearbeitet große und vor allem drängende Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Ihre Aufgabe ist es, langfristige Forschungsziele von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Damit sollen die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten und sogar verbessert werden. Helmholtz besteht aus 19 naturwissenschaftlich-technologischen und medizinisch-biologischen Forschungszentren.
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