Pressemitteilung vom 16. Mai 2023

Falter im Sinkflug

Berechnungen zeigen, dass die Schmetterlinge auf Europas Wiesen und Weiden immer weiter zurückgehen. Eine neue EU-Verordnung soll diesen Trend stoppen.

Wiesen-Schmetterlinge werden in der Naturschutz-Gesetzgebung der EU künftig eine größere Rolle spielen als bisher. Denn anhand ihrer Vorkommen und Bestandsentwicklungen sollen die Mitgliedsstaaten dokumentieren, welche Fortschritte sie bei der Umsetzung der geplanten "Verordnung zur Wiederherstellung der Natur" gemacht haben. Zum Einsatz kommen soll dabei der sogenannte Tagfalter-Grünland-Indikator, den die Naturschutzorganisation Butterfly Conservation Europe kürzlich zum achten Mal berechnet hat. Diese Analyse, in die auch Daten und Expertise vieler Ehrenamtlicher in Deutschland unter Koordination von Fachleuten des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Halle eingeflossen sind, zeigt einen dringenden Handlungsbedarf. Denn seit den ersten Berechnungen im Jahr 1990 hat sich die Situation der Grünland-Falter in Europa deutlich verschlechtert.

Der Aurorafalter (Anthocharis cardamines) ist laut Analyse der Wissenschaftler:innen die einzige Tagfalterart in der EU, für die eine signifikante Zunahme verzeichnet werden kann. Foto: Ulrike Schäfer
Der Aurorafalter (Anthocharis cardamines) ist laut Analyse der Wissenschaftler:innen die einzige Tagfalterart in der EU, für die eine signifikante Zunahme verzeichnet werden kann.
Foto: Ulrike Schäfer
Von den 17 Indikatorarten nimmt eine zu (grün), drei sind stabil (blau), fünf gehen zurück (rot) und für sechs Arten konnte kein signifikanter Trend (grau) in den teilnehmenden EU-Ländern festgestellt werden. Für zwei Arten (Phengaris arion und P. nausithous) gab es nicht genügend Daten, um einen Trend zu berechnen. Daher sind in der Grafik nur 15 Arten dargestellt. Foto: Butterfly Conservation Europe & SPRING/eBMS
Von den 17 Indikatorarten nimmt eine zu (grün), drei sind stabil (blau), fünf gehen zurück (rot) und für sechs Arten konnte kein signifikanter Trend (grau) in den teilnehmenden EU-Ländern festgestellt werden. Für zwei Arten (Phengaris arion und P. nausithous) gab es nicht genügend Daten, um einen Trend zu berechnen. Daher sind in der Grafik nur 15 Arten dargestellt.
Foto: Butterfly Conservation Europe & SPRING/eBMS

Die Diagnose klingt besorgniserregend: Mehr als 80 Prozent der Lebensräume in der EU gelten derzeit als geschädigt - mit entsprechenden Folgen für ihre Funktionsfähigkeit und die Leistungen, die sie für den Menschen erbringen. Um dem etwas entgegenzusetzen, hat die Europäische Kommission ein neues Regelwerk vorgeschlagen. Diese "Verordnung zur Wiederherstellung der Natur" ist eines der Schlüsselelemente der EU-Biodiversitätsstrategie für 2030, die im Mai veröffentlicht wurde. Sie sieht für die gesamte EU verbindliche Ziele für die Renaturierung verschiedener Ökosysteme und die Umkehr des Rückgangs von Bestäubern vor. Zwei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung müssen die Mitgliedsstaaten Pläne darüber vorlegen, wie sie diese Ziele erreichen wollen. Zudem müssen sie den Erfolg ihrer Maßnahmen dokumentieren.

Letzteres ist allerdings gar nicht so einfach. Denn es gibt bisher nur wenige Indikatoren, die den Zustand der Biodiversität zuverlässig anzeigen können. Für die meisten Tier- und Pflanzengruppen fehlt es an europaweit vergleichbaren Daten, an denen man die Entwicklung der Bestände ablesen könnte. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Vögel, Fledermäuse und die Tagfalter unter den Schmetterlingen. 

"Gerade Tagfalter sind ideale Bioindikatoren", sagt der Agrarökologe Prof. Dr. Josef Settele vom UFZ. Denn diese Tiere kommen in einem breiten Spektrum von Lebensräumen vor und reagieren empfindlich auf Umweltveränderungen. Oft stehen sie mit ihren Ansprüchen zudem stellvertretend für viele andere Insekten. Und nicht zuletzt sind sie auffällig, attraktiv und populär. Entsprechend leicht lassen sich Freiwillige motivieren, bei wissenschaftlichen Schmetterlingszählungen mitzumachen. 

Solche Aktionen werden immer beliebter. In Deutschland haben zum Beispiel das UFZ und die Gesellschaft für Schmetterlingsschutz (GfS) 2005 das Citizen-Science-Projekt "Tagfaltermonitoring Deutschland" ins Leben gerufen. Bundesweit laufen Falter-Fans seither im Sommerhalbjahr regelmäßig festgelegte Strecken ab und zählen die dabei beobachteten Tiere. Ähnliche Monitoring-Programme gibt es inzwischen auch in den meisten anderen Ländern Europas. "Insgesamt machen jetzt rund 5.000 über ganz Europa verteilte Freiwillige mit, die alle nach der gleichen Methode arbeiten", berichtet Josef Settele. 

Die so erhobenen Daten werden in der zentralen Datenbank "European Butterfly Monitoring Scheme" (eBMS) gesammelt und ausgewertet. Auf dieser Basis lässt sich dann zum Beispiel die Populationsentwicklung einzelner Arten verfolgen. Und es gibt die Möglichkeit, gemeinsame Trends für charakteristische Arten bestimmter Lebensräume zu erkennen. 

Genau das ist die Idee hinter dem Tagfalter-Grünland-Indikator, der sich aus den Bestandsentwicklungen von 17 typischen Bewohnern von Wiesen und Weiden zusammensetzt. Wenn sich die positiven und negativen Trends bei diesen Arten etwa die Waage halten, bleibt der Indikator auf dem gleichen Niveau. Gehen mehr Arten zurück, als im gleichen Zeitraum zunehmen, sinkt der Wert - und umgekehrt. Niedrigere Werte deuten also auf größere Probleme bei den Grünlandbewohnern hin. 

Die neusten Ergebnisse dieser Berechnungen, in die Daten aus den Jahren 1990 bis 2020 eingeflossen sind, lassen daher nichts Gutes befürchten. Die Analyse, die auch über das vom UFZ koordinierte EU-Projekt SPRING ("Strengthening Pollinator Recovery through Indicators and monitoring") mit-finanziert wurde, zeigt nur einen einzigen Gewinner: In den 27 Mitgliedsstaaten der EU kann lediglich der Aurorafalter (Anthocharis cardamines) eine Zunahme verzeichnen. Drei Arten sind stabil: der Rostfarbige Dickkopffalter (Ochlodes sylvanus), der Kleine Feuerfalter (Lycaena phlaeas) und das Große Ochsenauge (Maniola jurtina). Fünf Arten - vom Hauhechel-Bläuling (Polyommatus icarus) bis zum Mauerfuchs (Lasiommata megera) - aber weisen rückläufige Bestände auf. "Der größte Verlierer der letzten Jahre war dabei der Thymian-Ameisenbläuling (Phengaris arion), der in den Niederlanden zum Beispiel ganz verschwunden ist", sagt Josef Settele. Für die übrigen der 17 untersuchten Grünlandbewohner gibt es entweder keinen klaren Trend oder zu wenig Daten.  

Noch etwas ungünstiger wird das Bild, wenn man nicht nur die EU, sondern ganz Europa betrachtet. Dann findet sich gar keine Art im Aufwind, drei sind stabil. Sechs aber zeigen einen moderaten und eine sogar einen starken Rückgang. 

Angesichts dieser Entwicklungen wundert es nicht, dass der Grünland-Indikator inzwischen auf deutlich niedrigerem Niveau liegt als früher. Allein in den letzten zehn Jahren ist der berechnete Wert für die EU um 32 Prozent, der für ganz Europa sogar um 36 Prozent zurückgegangen. Die Krise der Grünlandbewohner hat offenbar bereits den gesamten Kontinent erfasst. Das zeigt sich immer deutlicher, je mehr Informationen aus verschiedenen Ländern die freiwilligen Falterzählerinnen und -zähler liefern. "Die Rückgänge beschränken sich nicht auf den Nordwesten Europas", betont Chris van Swaay von Butterfly Conservation Europe. "Allerdings schneiden einige Arten im Süden und Osten viel besser ab."

Gründe für die schrumpfenden Faltervorkommen sehen er und seine Kolleginnen und Kollegen vor allem in der Landwirtschaft. So wirkt sich in Nordwesteuropa vor allem eine zu intensive Nutzung von Wiesen und Weiden ungünstig aus. Der starke Einsatz von Düngemitteln belastet dort oft auch angrenzende Schutzgebiete mit zu großen Stickstoff-Mengen. Im Rest des Kontinents ist dagegen die komplette Aufgabe der Bewirtschaftung das Hauptproblem. Denn auch damit kommen Grünland-Schmetterlinge schlecht zurecht. 

Damit diese gerettet werden können, ist nach Einschätzung der Fachleute ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig. Es gelte, die nachhaltige Nutzung von Wiesen und Weiden zu fördern, neue wertvolle Lebensräume zu schaffen und die bestehenden besser miteinander zu vernetzen. Um dies zu erreichen ist eine Kooperation mit Landwirten wesentlich. Und auch von einer wirksamen Bekämpfung des Klimawandels würden die meisten Grünland-Schmetterlinge profitieren. "Trotz aller Bemühungen gehen diese Tiere in vielen Teilen Europas immer noch zurück", sagt Chris van Swaay. "Wir hoffen, dass die kommende Verordnung zur Wiederherstellung der Natur und damit verbundene Maßnahmen diesen Rückgang stoppen können, damit sich auch unsere Kinder an Schmetterlingen auf blumenreichen Wiesen erfreuen können."

Publikation:
Van Swaay, C.A.M., Dennis, E.B., Schmucki, R., Sevilleja, C.G., Åström, S., Balalaikins, M., Barea-Azcón, J.M. , Bonelli, S., Botham, M., Cancela, J.P., Collins, S., De Flores, M., Dapporto, L., Dopagne, C., Dziekanska, I., Escobés, R., Faltynek Fric, Z., Fernández-García, J.M., Fontaine, B., Glocovcan. P., Gracianteparaluceta, A., Harpke, A., Harrower, C., Heliölä, J., Houard, X., Kolev, Z., Komac, B., Kühn, E., Kuussaari, M., Judge, M., Lang, A., Lysaght, L., Maes, D., McGowan,D., Mestdagh, X., Middlebrook, I., Monasterio, Y., Monteiro, E., Munguira, M.L., Musche, M., Olivares, F.J., Õunap, E., Ozden, O., Pavlícko, A., Pendl, M., Pettersson, L.B., Rákosy, L., Roth, T., Rüdisser, J., Šašic, M., Scalercio, S.,  Settele, J., , Sielezniew, M., Sobczyk-Moran, G., Stefanescu, C., Švitra, G., Szabadfalvi, A., Tiitsaar, A., Titeux, N., Tzirkalli, E., Ubach, A., Verovnik, R., Vray, S., Warren, M.S., Wynhoff, I., & Roy, D.B.(2022).  European Grassland Butterfly Indicator 1990-2020 Technical report. Butterfly Conservation Europe & SPRING/eBMS (www.butterfly-monitoring.net) & Vlinderstichting report VS2022.039. https://assets.vlinderstichting.nl/docs/290cb16a-e90f-4c5b-a7df-9b954d511cfa.pdf


Weitere Informationen

Chris van Swaay
Butterfly Conservation Europe
Chris.vanSwaay@vlinderstichting.nl

Prof. Dr. Josef Settele
Leiter UFZ-Department Naturschutzforschung
josef.settele@ufz.de

UFZ-Pressestelle

Susanne Hufe
Telefon: +49 341 235-1630
presse@ufz.de


Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt und erarbeiten Lösungsoptionen. In sechs Themenbereichen befassen sie sich mit Wasserressourcen, Ökosystemen der Zukunft, Umwelt- und Biotechnologien, Chemikalien in der Umwelt, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg circa 1.100 Mitarbeitende. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

www.ufz.de

Die Helmholtz-Gemeinschaft identifiziert und bearbeitet große und vor allem drängende Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Ihre Aufgabe ist es, langfristige Forschungsziele von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Damit sollen die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten und sogar verbessert werden. Helmholtz besteht aus 19 naturwissenschaftlich-technologischen und medizinisch-biologischen Forschungszentren.

www.helmholtz.de
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