Pressemitteilung vom 09. Mai 2023

Wildpflanzen können sich bei landwirtschaftlicher Vermehrung verändern

Eine Studie untersucht die schnelle Domestizierung von Wildpflanzen, die für die Renaturierung vermehrt werden

Wildpflanzen spielen eine wichtige Rolle bei der Renaturierung beeinträchtigter oder zerstörter Ökosysteme. Das Saatgut dafür wird überwiegend in spezialisierten Betrieben vermehrt, ähnlich wie bei Nutzpflanzen. Ein Wissenschaftler:innen-Team unter der Leitung der Universität Marburg hat nun genauer untersucht, wie sich die Eigenschaften von Wildpflanzenarten im Zuge dieser Saatgutproduktion verändern. Dabei zeigte sich, dass innerhalb von nur drei Generationen einige Arten eine Reihe von Merkmalen entwickelten, die Nutzpflanzen typischerweise während der Domestikation ausprägen: Sie wurden größer, blühten üppiger und einheitlicher. Die in den ersten Generationen beobachteten Veränderungen waren jedoch zumeist geringfügig und dürften die Eignung der produzierten Samen für die Renaturierung nicht beeinträchtigen. Dennoch sind die beobachteten Merkmalsverschiebungen eine erste Warnung, dass Saatgut von Wildpflanzen nur für eine begrenzte Anzahl von Kultivierungsgenerationen produziert werden sollte, bevor eine Auffrischung durch Saatgut aus der freien Natur erfolgt, schreiben die Wissenschaftler:innen in der Fachzeitschrift PNAS.

Wildpflanzen für Renaturierungsprojekte werden in Kultur vermehrt. Foto: Ute Matthies
Wildpflanzen für Renaturierungsprojekte werden in Kultur vermehrt.
Foto: Ute Matthies

Die Zerstörung natürlicher Lebensräume ist global die größte Bedrohung für die biologische Vielfalt. Bereits mehr als die Hälfte der weltweiten Landfläche ist degradiert. Dieser Zustand kann jedoch durch die Renaturierung von Ökosystemen - die Wiederherstellung natürlicher Lebensräume auf degradierten Flächen - teilweise rückgängig gemacht werden. Zu den Renaturierungsmaßnahmen gehören zum Beispiel die Wiederherstellung von Wäldern durch das Pflanzen von Bäumen oder von Grasland durch das Ausbringen von Samen. Das Saatgut für diese Maßnahmen wird in der Regel in landwirtschaftlichen Saatgutbetrieben erzeugt.

Durch die landwirtschaftliche Praxis könnten jedoch unbeabsichtigt bestimmte Merkmale selektiert werden - ein Muster, das aus der frühen Domestikation von Nutzpflanzen bekannt ist. Dabei entwickelten die Nutzpflanzen Eigenschaften, die durch den Landwirt oder das Anbausystem bevorzugt wurden, verloren aber auch die Anpassung an die Wildnis. Wenn solche Veränderungen bei Wildpflanzen auftreten, die zur Wiederherstellung von Ökosystemen angebaut werden, könnten sie die Leistungsfähigkeit der Pflanzen nach Aussaat in ihrem natürlichen Lebensraum verringern - ein Nachteil für den Erfolg der Maßnahmen. Um zu prüfen, ob dies der Fall ist, konzentrierten sich die Forschenden auf 19 häufige Grünlandarten und verglichen in einem Experiment Pflanzen aus wild gesammeltem Saatgut mit Pflanzen aus Saatgut, das bis zu vier Generationen lang in landwirtschaftlichen Betrieben vermehrt worden war. 

Die Forschenden entdeckten, dass sich einige Pflanzen aus landwirtschaftlich vermehrtem Saatgut tatsächlich weiterentwickelt hatten. Sie waren größer, produzierten mehr Blüten und ihr Blühbeginn war stärker synchronisiert als der ihrer wilden Vorfahren. "Diese Effekte entsprechen dem, was wir von der Domestikation von Nutzpflanzen erwartet haben", sagt Malte Conrady, der als Doktorand das Experiment an der Universität Münster durchgeführt hat. "Allerdings gab es große Unterschiede zwischen den Arten. Nur ein Drittel der Arten veränderte sich, und die Veränderungen waren meist moderat", fügt er hinzu. "Wichtig ist, dass der Unterschied zwischen Wild- und Kulturpflanzen umso größer wurde, je länger die Pflanzen kultiviert wurden", betont Dr. Walter Durka, Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle und Mitautor der Studie.

Die Ergebnisse sind wichtig, um die Saatgutproduktion für die ökologische Renaturierung zu optimieren. "Es ist bekannt, dass landwirtschaftliche Praktiken eine starke Selektion bewirken. Wir waren eigentlich überrascht, dass wir nur so moderate Veränderungen feststellen konnten", sagt Prof. Dr. Anna Bucharova von der Universität Marburg, die das Forschungsteam leitete. "Es ist unwahrscheinlich, dass die Veränderungen, die wir in den wenigen kultivierten Generationen feststellen, die Qualität des Saatguts beeinträchtigen. Das heißt, dass das in der Landwirtschaft vermehrte Saatgut für die Renaturierung weiterhin gut geeignet ist", fügt sie hinzu. Besorgniserregend ist jedoch die Zunahme der Differenzierung mit der Dauer des Anbaus, denn wenn ein Saatgutbestand über viele Generationen hinweg vermehrt werden würde, könnten die Veränderungen so stark werden, dass sie den Erfolg von Maßnahmen gefährden könnten. 

Um die Praktiken der Saatguterzeugung zu verbessern, plädieren die Forschenden dafür, die Anzahl der Generationen zu begrenzen, in denen die Pflanzen kultiviert werden können, ohne dass der Saatgutbestand aus neuen Wildsammlungen wieder aufgefüllt wird. Eine solche Begrenzung gibt es bereits in Deutschland, wo zertifiziertes Wildpflanzen-Saatgut maximal vier bis fünf Generationen lang vermehrt werden darf. In vielen anderen Ländern fehlen jedoch solche Vorschriften.

Die Forschung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziell unterstützt. An der Studie waren Forschende der Philipps-Universität Marburg, der Universität Münster, der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) beteiligt.

(Quelle: Uni Marburg)

Publikation:
Malte Conrady, Christian Lampei, Oliver Bossdorf, Norbert Hölzel, Stefan Michalski, Walter Durka, Anna Bucharova (2023): Plants cultivated for ecosystem restoration can evolve toward a domestication syndrome. PNAS. https://doi.org/10.1073/pnas.2219664120 


Weitere Informationen

Prof. Dr. Anna Lampei Bucharova
Philipps-Universität Marburg
anna.lampei-bucharova@uni-marburg.de

Dr. Walter Durka
UFZ-Department Biozönoseforschung
walter.durka@ufz.de

UFZ-Pressestelle

Susanne Hufe
Telefon: +49 341 235-1630
presse@ufz.de


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