Statement vom 22. Mai 2025

Mutter aller Lösungen 

Mit diverser Natur könnten wir einige der derzeitigen Herausforderungen meistern

Ein Statement von Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese, Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) und Professorin für Biodiversität im Anthropozän an der Universität Leipzig.

<p>Katrin Böhning-Gaese</p> Foto: André Künzelmann, UFZ / Peter Kiefer

Katrin Böhning-Gaese


Foto: André Künzelmann, UFZ / Peter Kiefer

Während der Verhandlungen zum Klimaschutz in Paris 2015 wurde der Spruch geprägt: Die Klimakatastrophe ist „die Mutter aller Probleme“. Seitdem erleben wir immer wieder neue Temperaturrekorde, Jahre mit Dürren, andere mit ungewöhnlichem Hochwasser. Ein Extremwert jagt den anderen, eine Katastrophe folgt der nächsten – auch jenseits des Klimathemas: Corona-Pandemie, Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, Migration, Wirtschaftsflaute, Erosion der Multilateralen Weltordnung, Handelskrieg. Selbst wohlmeinende Menschen sind in der Zwischenzeit überfordert, müde und niedergeschlagen. In dieser Zeit der Polykrisen gehen die langfristigen Herausforderungen fast unter.

Das gilt auch für die biologische Vielfalt. Dabei ist der Verlust dramatisch. Kein Monat vergeht, in dem nicht weitere Rückgänge dokumentiert werden. Im Herbst 2024 kam der Faktencheck Artenvielfalt für Deutschland heraus. Mehr als 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 75 Institutionen wirkten an ihm mit. Ergebnis: 60 Prozent der Ökosysteme in Deutschland sind in einem schlechten Zustand. Das bedeutet, weiterhin Insektensterben, Schrumpfen der Vogelbestände, selbst der Igel gilt mittlerweile als gefährdet. International sieht es nicht minder besorgniserregend aus. Mit anderen Worten: Das Netz der Natur wird brüchiger. Die Folgen: Ökosysteme verlieren an Resilienz, Böden an Fruchtbarkeit, Ökosystemleistungen für die Menschen nehmen ab. Das Problem ist sehr gut dokumentiert; auch die Ursachen für das Artensterben sind tausendfach gezeigt, allen voran Landnutzungswandel, intensive Landwirtschaft, Ausbeutung der Meere, zunehmender Klimawandel, Umweltverschmutzung.

Was es jetzt braucht, sind Lösungen, idealerweise „Multi-Lösungen“, mit denen der Polykrise begegnet werden kann, der Klimakrise, der Wirtschaftsflaute, der Müdigkeit und Niedergeschlagenheit. Erfreulicherweise gibt es eine Lösung: Förderung der Biodiversität, mit positiven Nebeneffekten auf Ökosysteme, Wirtschaft und Gesundheit. Natur ist vielleicht nicht die Mutter aller Lösungen, aber sie kann zum Meistern vieler Krisen einen zentralen Beitrag leisten. Hohe Biodiversität macht Ökosysteme robuster gegenüber Störungen und ermöglicht ihnen, sich schneller zu erholen: Denn in diversen Ökosystemen können sich mehr Arten gegenseitig in ihren Funktionen ersetzen. So haben Mischwälder in Deutschland Hitze, Trockenheit und Borkenkäfern viel besser getrotzt als Monokulturen. Sie halten mehr Kohlenstoff im Ökosystem, nutzen Nährstoffe besser und stabilisieren damit Stickstoff- und Phosphorzyklen. Oder: diverse, lebendige Moore speichern das Wasser in der Landschaft und versorgen in Dürrezeiten auch benachbarte Flächen.

Artenvielfalt begünstigt außerdem nachhaltige Geschäftsmodelle. Gerade in der Lebensmittelbranche zeigen sich derzeit entlang der Lieferketten hohe Schwankungen in der landwirtschaftlichen Produktion und damit in den Preisen, so bei Olivenöl, Orangen oder Kakao. Diese werden u.a. durch den Klimawandel verursacht. Es ist nachgewiesen, dass diverse Anbausysteme resilienter, auch gegen Klimawandel und Schädlinge, sind. Und es gibt noch einen weiteren wichtigen Vorteil: Vielfältigere Ökosysteme sind auch gut für unsere Gesundheit. Studien haben gezeigt, Biodiversität macht glücklich: Dort wo es viele Vögel gibt, sind Menschen psychisch gesünder und zufriedener als andernorts. Dieser Faktor hat dabei genauso starken Einfluss auf das Wohlbefinden wie das Einkommen.

Kurz gesagt, Maßnahmen zugunsten von Biodiversität haben große unmittelbare Wirkungen. Trotzdem wird nicht genug unternommen, stattdessen geht der Schwund weiter. Dabei sind die Lösungen nicht kompliziert und wissenschaftlich gut belegt: Wir brauchen erstens mehr und besser gemanagte Schutzgebiete plus mehr Renaturierung. Das bedeutet, wir müssen wieder mehr Natur Natur sein lassen. Dafür braucht es in der Regel kein großartiges Management, sondern einfach ein Zurücknehmen der menschlichen Nutzung. Die meisten Ökosysteme bauen sich von selbst und ohne menschliche Eingriffe in diverse Ökosysteme um. Beispiele dafür sind der Darß in Mecklenburg-Vorpommern, alte Truppenübungsplätze wie die Oranienbaumer Heide oder der Anklamer Stadtbruch.

Wir brauchen zweitens eine produktive, aber biodiversitätsfreundliche Landwirtschaft. Ökolandbau schneidet hier im Mittel besser ab; aber auch in der konventionellen Landwirtschaft lässt sich einiges unternehmen, zum Beispiel durch Blühstreifen, Brachen, Hecken, Bäume oder weniger chemischen Pflanzenschutz. Dafür gibt es sehr erfolgreiche Modellprojekte, die zeigen, dass sich hier schon in wenigen Jahren viel erreichen lässt. Drittens, und das gilt für viele Umweltkrisen, ist nachhaltiger Konsum wichtig. Weniger Lebensmittel zu verschwenden und weniger Fleisch zu essen, könnte einen großen Beitrag leisten: Die Produktion von Fleisch braucht viel mehr Fläche als die Herstellung pflanzlicher Lebensmittel – für ein Kilogramm Rindfleisch zum Beispiel 160 Mal mehr als für ein Kilogramm Kartoffeln. Auf diese Weise würde Fläche für Schutzgebiete und eine biodiversitätsfreundliche Landwirtschaft frei. Mit diesen drei Maßnahmenpaketen – Schutzgebiete, nachhaltige Produktion, nachhaltiger Konsum – wäre ein gutes Leben für alle Menschen auf der Erde möglich, heute und in Zukunft. Und anders als beim Klimawandel wäre der Nutzen von jeder und jedem unmittelbar spürbar. Denn eine pflanzenbasierte Nahrung ist nachweislich gesünder, die Zufriedenheit bei intakter Natur spürbar höher.

Wir kennen also die Lösungen. Und trotzdem geschieht zu wenig. Warum ist das so? Gus Speth, der langjährige Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, sieht folgenden Grund dafür: “Früher dachte ich, die größten Umweltprobleme sind Biodiversitätsverlust, Ökosystem-Kollaps und Klimawandel. Aber ich lag falsch. Es sind Egoismus, Gier und Apathie.“ Als Abhilfe schlägt er einen spirituellen und kulturellen Wandel vor. Diese sozial-ökologische Transformation ist auch das übergeordnete Thema der Enzyklika „Laudato si´“ des vor kurzem verstorbenen Papstes Franziskus, in der er für mehr Genügsamkeit, Demut und mutiges Handeln plädiert. Mit seinem Tod erreicht diese radikale Schrift gerade wieder größere Aufmerksamkeit; gleichzeitig wirkt sie angesichts der oben genannten Polykrisen wie aus der Zeit gefallen. Doch zum Glück können auch kleine Schritte in die richtige Richtung schon einiges bewirken, wenn wir sie alle machen: zurück zum Sonntagsbraten, mehr Bio kaufen, Lebensmittel verbrauchen statt verschwenden oder Kleidung länger tragen, bevor sie rausfliegt. Das nützt uns selbst und der Allgemeinheit. Selten liegen Eigen- und Fremdnutzen so nah beieinander wie beim Schutz von Biodiversität. Und die Politik? Sie sollte Anreize so setzen, dass dieses Handeln einfach und günstig und damit (wieder) normal wird.


Weitere Informationen

UFZ-Pressestelle

Susanne Hufe
Telefon: +49 341 6025-1630
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Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt und erarbeiten Lösungsoptionen. In sechs Themenbereichen befassen sie sich mit Wasserressourcen, Ökosystemen der Zukunft, Umwelt- und Biotechnologien, Chemikalien in der Umwelt, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg circa 1.100 Mitarbeitende. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

www.ufz.de

Die Helmholtz-Gemeinschaft identifiziert und bearbeitet große und vor allem drängende Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Ihre Aufgabe ist es, langfristige Forschungsziele von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Damit sollen die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten und sogar verbessert werden. Helmholtz besteht aus 19 naturwissenschaftlich-technologischen und medizinisch-biologischen Forschungszentren.

www.helmholtz.de
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