Pressemitteilung vom 26. April 2017

Urbanisierung kostet Milliarden Jahre Evolutionsgeschichte

Verstädterung erhöht regional die Zahl an Pflanzenarten, geht aber mit einem Verlust an verwandtschaftlicher Vielfalt einher

Weltweit nimmt die Urbanisierung von Landschaften zu. 60 Prozent der Flchen, die 2030 voraussichtlich stdtisch sein werden, sind heute noch gar nicht bebaut. Wie sich die biologische Vielfalt dadurch verndert, lsst sich nur rckblickend feststellen. Allerdings gibt es fr die meisten Stdte erst seit der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts systematische Erhebungen der biologischen Vielfalt. Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums fr Umweltforschung (UFZ) und des Deutschen Zentrums fr integrative Biodiversittsforschung (iDiv) zeigen nun anhand historischer Daten, wie sich die Vielfalt von Pflanzen in der Region Halle (Saale) in ber 300 Jahren der Verstdterung verndert hat und machen Vorhersagen fr die Zukunft.

Das Frühlings-Adonisröschen (Adonis vernalis) verschwand im 19. Jahrhundert aus Halle. Die Art ist auf stickstoffarme Böden angewiesen. Sie gilt heute in ganz Deutschland als gefährdet. Foto: UFZ / André Künzelmann
Das Frühlings-Adonisröschen (Adonis vernalis) verschwand im 19. Jahrhundert aus Halle. Die Art ist auf stickstoffarme Böden angewiesen. Sie gilt heute in ganz Deutschland als gefährdet.
Foto: UFZ / André Künzelmann
Der Japanische Staudenknöterich (Fallopia japonica) kommt, wie auch der eng verwandte Schling-Flügelknöterich, seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in Halle vor. Die in Deutschland gebietsfremde Art wächst gut auf warmen, stickstoffreichen Standorten. Foto: UFZ / André Künzelmann
Der Japanische Staudenknöterich (Fallopia japonica) kommt, wie auch der eng verwandte Schling-Flügelknöterich, seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in Halle vor. Die in Deutschland gebietsfremde Art wächst gut auf warmen, stickstoffreichen Standorten.
Foto: UFZ / André Künzelmann

Die Wissenschaftler nutzten dafür von Botanikern seit dem 17. Jahrhundert veröffentlichte Artenlisten sowie Daten aus Herbarien. Bereits in den 1680er Jahren erfasste beispielsweise der botanisch interessierte Arzt Christoph Knauth die Pflanzenarten, die damals auf dem Gebiet der heutigen Stadt Halle vorkamen. Dabei beschränkte er sich nicht - wie bis ins 17. Jahrhundert üblich - auf die Pflanzen, die von pharmazeutischem Interesse waren, sondern erstellte eine weitgehend vollständige Artenliste. Sein Werk "Enumeratio Plantarum Circa Halam Saxonum Et In Eius Vicinia, Ad Trium Fere Milliarium Spatium, Sponte Provenientium" publizierte er im Jahre 1687. Mehr als 20 Botaniker erfassten die hallesche Flora im Laufe der darauffolgenden Jahrhunderte, in denen sich die Bevölkerung der Stadt mehr als verzehnfachte.

Anhand dieser umfassenden Daten zeigte das Team um UFZ-Geoökologin Dr. Sonja Knapp, dass die Zahl der Pflanzenarten in Halle zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts und dem Beginn des 21. Jahrhunderts deutlich gestiegen ist - von 711 auf 860 Arten. Zugleich sank allerdings die verwandtschaftliche Vielfalt der Pflanzen: Einheimische Arten aus verschiedensten Pflanzenfamilien starben regional aus und wurden durch enger verwandte Arten ersetzt. Dazu zählen sowohl häufige einheimische Arten als auch gebietsfremde Arten, die aus anderen Regionen der Welt stammen. Als die Forscher die Summe aller Astlängen im Stammbaum, die verloren gegangen sind, berechneten, kamen sie zu dem Ergebnis, dass im Raum Halle 4,7 Milliarden Jahre Evolutionsgeschichte verloren gegangen sind - so stark sank die berechnete verwandtschaftliche Vielfalt.

Zusätzlich zu diesem Rückblick in die vergangenen drei Jahrhunderte wagten die Wissenschaftler einen Blick in die Zukunft: Das Team berechnete, wie sich die aktuelle verwandtschaftliche Vielfalt der halleschen Flora ändern würde, wenn zum einen die auf der Roten Liste der gefährdeten Arten genannten Pflanzen aus Halle verschwinden würden und zum anderen die in Deutschland häufigsten gebietsfremden Arten, die es in Halle noch nicht gibt, dort einwandern würden. "Die verwandtschaftliche Vielfalt wird sehr wahrscheinlich weiter sinken", sagt Dr. Marten Winter, der seitens des iDiv an der Studie beteiligt war.

Die verwandtschaftliche Vielfalt von Pflanzen gilt als wichtige Grundlage der Stabilität von Ökosystemen. Sie fördert die Vielfalt anderer Organismen und kann die Produktion von Biomasse steigern. Wie viele Millionen Jahre Evolutionsgeschichte verloren gehen müssen, damit Ökosysteme instabil werden, ist bislang allerdings ungeklärt. Die Wissenschaftler plädieren daher für einen vorsorgenden Schutz der biologischen Vielfalt. Da der Verlust der verwandtschaftlichen Vielfalt in Halle primär durch den Verlust einheimischer Arten getrieben wurde - darunter viele Arten, die auf nährstoffarme und kühle Lebensräume angewiesen sind - plädieren Sonja Knapp und ihre Kollegen für einen verstärkten Schutz dieser Arten und ihrer Lebensräume.

Publikation:
Knapp S, Winter M, Klotz S: Increasing species richness, but decreasing phylogenetic richness and divergence over a 320-year period of urbanisation. J. Appl. Ecol. DOI 10.1111/1365-2664.12826. http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1365-2664.12826/full


Weitere Informationen

Dr. Marten Winter
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv)
Telefon: +49 341 97-33129
marten.winter@idiv.de

Dr. Sonja Knapp
UFZ-Department Biozönoseforschung
Telefon: +49 345 558-5308
sonja.knapp@ufz.de

UFZ-Pressestelle

Susanne Hufe
Telefon: +49 341 235-1630
presse@ufz.de


Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt und erarbeiten Lösungsoptionen. In sechs Themenbereichen befassen sie sich mit Wasserressourcen, Ökosystemen der Zukunft, Umwelt- und Biotechnologien, Chemikalien in der Umwelt, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg circa 1.100 Mitarbeitende. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

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Die Helmholtz-Gemeinschaft identifiziert und bearbeitet große und vor allem drängende Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Ihre Aufgabe ist es, langfristige Forschungsziele von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Damit sollen die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten und sogar verbessert werden. Helmholtz besteht aus 19 naturwissenschaftlich-technologischen und medizinisch-biologischen Forschungszentren.

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