Pressemitteilung vom 15. Januar 2021

Die Vermessung der unterirdischen Welt

Forschende appellieren, den Lebensraum Boden in internationalen Schutzstrategien stärker zu berücksichtigen

Ein Viertel aller bekannten Arten lebt im Boden. Doch globale Strategien zum Schutz der Biodiversität schenken diesem Lebensraum bisher wenig Beachtung. Ein internationales Wissenschaftler*innen-Team, darunter auch Bodenökologen des UFZ, ruft in der Fachzeitschrift Science dazu auf, die Böden in den Neuverhandlungen internationaler Biodiversitätsstrategien stärker zu berücksichtigen. Ihre Bedeutung müsse weit über die Landwirtschaft hinaus honoriert werden. Um Zustand und Leistungen der Böden besser sichtbar zu machen, erläutern die Forscher ihren Plan zur systematischen Erfassung auf Basis weltweit einheitlicher Standards.

Regenwürmer sind die Architekten des Bodens. Sie durchmischen die Bodenschichten, bilden ein Netzwerk von Höhlen, das für die Wasser-, Luft- und Nährstoffdynamik unerlässlich ist, und zersetzen totes Material. Foto: Valentin Gutekunst
Regenwürmer sind die Architekten des Bodens. Sie durchmischen die Bodenschichten, bilden ein Netzwerk von Höhlen, das für die Wasser-, Luft- und Nährstoffdynamik unerlässlich ist, und zersetzen totes Material.
Foto: Valentin Gutekunst
Springschwänze (Collembola) können nützliche Indikatoren für die Bodenqualität sein. Foto: Andy Murray
Springschwänze (Collembola) können nützliche Indikatoren für die Bodenqualität sein.
Foto: Andy Murray

Würde man die Menschen befragen, welche Tiergruppe die häufigste auf der Erde wäre, es würde wohl kaum jemand auf die richtige Antwort kommen. Nicht Ameisen, nicht Fische, auch nicht Menschen - es sind die Nematoden, auch Fadenwürmer genannt. Vier von fünf Tieren auf der Erde gehören dieser Gruppe an. Dass sie kaum einer kennt, liegt daran, dass sie unsichtbar unter der Erde leben. Still und leise leisten sie der Welt über ihnen tagtäglich wichtige Dienste - gemeinsam mit Tausenden anderen Bodenlebewesen. 

Der Boden ist einer der artenreichsten Lebensräume überhaupt. Unter einem Quadratmeter gesunden Bodens leben bis zu 1,5 Kilogramm Lebewesen, zum Beispiel Fadenwürmer, Regenwürmer, Springschwänze, Milben und Insektenlarven. Hinzu kommen Myriaden von Mikroorganismen, etwa Bakterien, Protisten und Pilze. Sie fressen und verwandeln lebendes und totes Tier- und Pflanzenmaterial in Nährstoffe für neues Leben. Ohne Bodenlebewesen könnten keine Pflanzen wachsen, könnten keine Menschen leben. 

Umso erstaunlicher, dass Böden in den internationalen Strategien zum Schutz der Biodiversität bislang kaum eine Rolle spielen. Für die Autoren des Science-Artikels ein großes Problem: "Wenn wir die Böden nicht für die nächsten Generationen schützen", schreiben sie, "können auch die oberirdische Artenvielfalt und die Nahrungsmittelproduktion nicht gewährleistet werden". Der Appell geht an die 196 Staaten, die im Rahmen der UN-Konvention zur biologischen Vielfalt (CBD) eine neue Strategie zum Schutz der Biodiversität verhandeln. 

Denn die Böden sind immer seltener gesund. Sie leiden unter intensiver Bewirtschaftung mit schweren Maschinen, Düngern und Pestiziden, werden verdichtet, überbaut oder gehen durch Wind- und Wassererosion verloren. Die Klimaerwärmung setzt sie zusätzlich unter Druck. So gehen laut Heinrich-Böll-Stiftung weltweit jährlich rund 24 Milliarden Tonnen fruchtbaren Bodens verloren. Damit fallen nach und nach auch vielfältige Leistungen der Böden aus, wie die Reinigung von Wasser oder der Schutz vor Pflanzenkrankheiten. Außerdem sind Böden der wichtigste Kohlenstoffspeicher der Erde und bremsen so den globalen Klimawandel.

Die Biodiversität des Bodens hilft oder bestraft uns je nachdem, wie wir mit ihrem Lebensraum umgehen", erklärt Prof. François Buscot, Leiter des Departments Bodenökologie am UFZ und einer der Co-Autoren. "Steigende Durchschnittstemperaturen bringen die Bodenorganismen-Gemeinschaften aus dem Gleichgewicht, was die Ausbreitung von Krankheitserregern der Nutzpflanzen fördert. Verstärkt werden die schädlichen Pilze und Bakterien auch durch intensive Landwirtschaft oder durch die Anreicherung von Kunststoffen im Boden. Aber wenn wir unsere Böden schonend nutzen, helfen uns die Bodenlebewesen zum Beispiel, die globale Erwärmung zu bekämpfen, indem sie mehr Kohlenstoff aus der Atmosphäre im Boden binden", so Buscot weiter.

Diese Leistungen kommen den Forschenden in den politischen Debatten viel zu kurz. "Bisher wurde der Bodenschutz zu sehr auf die Vermeidung von Erosion und den Verlust der Produktivität in der Landwirtschaft reduziert", sagt Erstautor Dr. Carlos Guerra (iDiv, MLU). "Es wird Zeit, dass Naturschutzpolitik sich den Schutz von Bodenorganismen und deren Ökosystemfunktionen als Ziel setzt - über die Nahrungsmittelproduktion hinaus. Indem wir die biologische Vielfalt im Boden erfassen und schützen, unterstützen wir die Erfüllung vieler Nachhaltigkeitsziele, sei es der Klimaschutz, die Nahrungsmittelversorgung oder der Schutz der biologischen Vielfalt."

Um entscheiden zu können, welche Regionen der Welt besonders schutzwürdig sind und welche Schutzmaßnahmen sinnvoll sind, müssen ausreichend Informationen über Zustand und Entwicklung der Biodiversität in Böden vorhanden sein. Da dies bislang nicht der Fall ist, haben die Forscher das Monitoring-Netzwerk Soil BON ins Leben gerufen. "Wir wollen die biologische Vielfalt in den Böden in den Fokus der Schutzbemühungen rücken. Dazu müssen wir der Politik die notwendigen Entscheidungshilfen liefern", sagt Senior-Autor Prof. Nico Eisenhauer, Forschungsgruppenleiter bei iDiv und der Universität Leipzig. "Soil BON wird die relevanten Daten erzeugen und Unterstützung leisten, um dieses Ziel zu erreichen."

Soil BON soll helfen, vergleichbare Boden-Daten flächendeckend und über lange Zeiträume zu erfassen. Notwendig sind weltweit einheitliche Regeln, was wie erfasst werden soll. Die Forscher schlagen hierfür ein ganzheitliches System vor, das auf den sogenannten Essential Biodiversity Variables (EBVs) aufbaut. EBVs sind Schlüsselgrößen für die Messung von Biodiversität und ihrem Wandel. Das Konzept enthält Messgrößen wie Bodenatmung, Nährstoffumsatz oder genetische Diversität. Aus den EBVs leiten sich Indikatoren ab, die als Entscheidungsgrundlagen für die Bewertung und die Schutzwürdigkeit von Böden dienen. 

Das vorgeschlagene Monitoring- und Indikator-System ermöglicht es den Forschern zufolge, den weltweiten Zustand der Böden und ihrer Funktionsfähigkeit effizient zu erfassen und langfristig zu verfolgen. Sie betonen zudem, dass es auch als wichtiges Frühwarnsystem dienen kann: Mit seiner Hilfe ließe sich frühzeitig erkennen, ob mit den laufenden Maßnahmen die gesteckten Naturschutzziele erreicht werden können.

Diese Forschungsarbeit wurde u.a. gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG; FZT-118).

Publikation:
Carlos A. Guerra, Richard D. Bardgett, Lucrezia Caon, Thomas W. Crowther, Manuel Delgado-Baquerizo, Luca Montanarella, Laetitia M. Navarro, Alberto Orgiazzi, Brajesh K. Singh, Leho Tedersoo, Ronald Vargas-Rojas, Maria J. I. Briones, François Buscot, Erin K. Cameron, Simone Cesarz, Antonis Chatzinotas, Don A. Cowan, Ika Djukic, Johan van den Hoogen, Anika Lehmann, Fernando T. Maestre, César Marín, Thomas Reitz, Matthias C. Rillig, Linnea C. Smith, Franciska T. de Vries, Alexandra Weigelt, Nico Eisenhauer & Diana H. Wall (2020): Tracking, targeting, and conserving soil biodiversity - A monitoring and indicator system can inform policy, Science, DOI: 10.1126/science.abd7926 https://science.sciencemag.org/content/371/6526/239


Weitere Informationen

Dr. Carlos Guerra
iDiv / MLU Halle-Wittenberg
carlos.guerra@idiv.de

Prof. Dr. Nico Eisenhauer
iDiv / Uni Leipzig
nico.eisenhauer@idiv.de

Prof. Dr. François Buscot
Leiter des UFZ-Departments Bodenökologie
francois.buscot@ufz.de

UFZ-Pressestelle

Susanne Hufe
Telefon: +49 341 235-1630
presse@ufz.de


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