Pressemitteilung vom 27. April 2011
Schnelle Evolution bei Schnecken
Europaweites Mitmach-Projekt veröffentlicht wissenschaftliche Ergebnisse
San Francisco/ Halle/Saale. Veränderungen bei Lebensräumen und Fressfeinden können Tiere zu schnellen evolutionären Anpassungen zwingen. Das schlussfolgert ein internationales Forscherteam aus der Auswertung von historischen und aktuellen Daten über Gehäusefarben und -mustern von über einer halben Million Schnecken der in Europa weit verbreiteten Schwarzmündigen Bänderschnecke (Cepaea nemoralis). Die aktuellen Daten kamen durch das Mitmach-Projekt "Evolution MegaLab" zustande, an dem Tausende Freiwillige in 15 Ländern Europas teilgenommen haben und es dadurch zur größten Datenerhebung dieser Art gemacht haben, die jemals stattgefunden hat, schreiben die Wissenschaftler im Online-Journal PLoS One.
Die Schwarzmündige Bänderschnecke (Cepaea nemoralis) und die Weißmündige Bänderschnecke (Cepaea hortensis) kommen in verschiedensten Lebensräumen in Europa vor und weisen eine hohe Vielfalt an verschiedenen Gehäusen auf.
Foto: André Künzelmann, UFZ
Insbesondere im Darwin-Jahr 2009 haben viele Freiwillige mitgemacht und Daten von der Schwarzmündigen Bänderschnecke (Cepaea nemoralis) auf der Internetplattform EvolutionMegalab eingetragen:
www.evolutionmegalab.org
Foto: André Künzelmann, UFZ
Tiere und Pflanzen zählen zu den sensibelsten Indikatoren des globalen Wandels. Vor allem Arten, die sich schnell vermehren, sind prinzipiell in der Lage, sich in kurzer Zeit genetisch an veränderte Lebensbedingungen anzupassen. Es gibt jedoch kaum historische genetische Daten aus einem großen Verbreitungsgebiet, mit denen man solche rasche Evolution zeigen könnte. Eine seltene Ausnahme ist die Schwarzmündige Bänderschnecke (Cepaea nemoralis), deren Gehäuse eine außergewöhnliche Vielfalt an Farben und Mustern aufweist, und die schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts in ganz Europa intensiv untersucht wird. Die Bänderschnecke ist ein Meister der Anpassung: Sie kommt in den verschiedensten Lebensräumen von Küstendünen bis hin zu Gebirgswäldern vor, und es ist bekannt, dass die Vielfalt der Schneckengehäuse mit der Anpassung an verschiedene Lebensräume und Fressfeinde zusammen hängt. Das häufige Vorkommen dieser markanten Art in Gärten und Städten machte sie zum idealen Studienobjekt für eine große Feldstudie zur Evolution. Am 200. Geburtstag von Charles Darwin, dem 12. Februar 2009, hatten das Museum für Naturkunde Berlin, der Naturschutzbund Deutschland (NABU) und das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) die deutsche Version des europaweiten Mitmach-Projektes gestartet. "Evolution MegaLab" war einer der Gewinner des Wettbewerbs "Evolution heute" der VolkswagenStiftung und wurde von ihr mit rund 97.000 Euro gefördert.
Während Biologen fast ein Jahrhundert brauchten, um Daten über rund 6000 Populationen der Art zu sammeln, gelang es mithilfe von Freiwilligen, innerhalb von zehn Jahren Daten über rund 3000 Populationen zu sammeln, wobei die Mehrzahl im Darwin-Jahr 2009 auf der Internetplattform www.evolutionmegalab.org eingetragen wurde. Dort wurden die Informationen zur Erhebung der Daten und schließlich auch die Ergebnisse angezeigt. Gleichzeitig wurden alle Freiwilligen aufgefordert ein Quiz durchführen, um sicherzustellen, dass sie die gesuchte Art nicht mit ähnlichen Schneckenarten verwechseln. Das Wissen der Hobbybiologen überraschte selbst die Profiwissenschaftler: Lediglich ein Prozent der Daten erwiesen sich als falsch und wurden entfernt, um das Endergebnis nicht zu verfälschen. "Dies war eine der größten Studien zur Evolution, die es jemals gegeben hat", freut sich Professor Jonathan Silvertown von der Open University (OU) in Großbritannien, der die Idee dazu hatte. Durch die Beobachtungen wollten wir der Öffentlichkeit und damit auch Familien und Schulkindern die Möglichkeit geben, an der Forschung teilzunehmen. Sie konnten dadurch selbst erleben, welchen Reiz es hat, etwas zu entdecken."
Die durchschnittliche Landtemperatur ist in Europa im 20. Jahrhundert nach Angaben der Europäischen Umweltagentur EEA aus dem Jahr 2010 um 1.3 Grad Celsius angestiegen. "Wir hatten erwartet, dass dieser Temperaturanstieg zu einer Zunahme der hellen Gehäusefarben und zu einem Rückgang der dunklen führen würde", erklärt Dr. Christian Anton, der das Projekt für Deutschland vom UFZ aus koordiniert hatte. Bei den gelben Gehäusen, die sich in der Sonne am wenigsten erwärmen, konnten die Wissenschaftler eine Zunahme feststellen - jedoch nur bei den Tieren, die im Lebensraum Düne zu Hause sind. Offenbar kriechen die Schnecken in den anderen Lebensräumen einfach in den Schatten, wenn es ihnen zu warm wird. "Überrascht waren wir aber, als wir festgestellt haben, dass der Anteil der Schnecken, die nur einen Streifen auf dem Gehäuse haben, europaweit angestiegen ist. Das ist schnelle Evolution." Die Wissenschaftler vermuten, dass dies mit kleinräumigen Änderungen der Umwelt oder mit dem natürlichen Feind dieser Schneckenart, der Singdrossel, zusammenhängt. "Wenn wir bedenken, wie viele Menschen sich für das Beobachten von Vögeln interessieren, dann könnte ein Freiwilligenprojekt zur Entwicklung der Vogelpopulationen hier Licht ins Dunkel bringen", blickt Anton voraus.
Im Schnitt lag zwischen den historischen und den aktuellen Datenerhebungen ein halbes Jahrhundert. Das entspricht etwa 15 bis 20 Generationen der kleinen Schnecken mit den vielfältigen Gehäusen. Dank des Einsatzes von
Tausenden Freiwilliger konnte bestätigt werden, dass diese Vielfalt ein Ergebnis von Anpassung an verschiedene Umweltbedingungen ist, und es wurde deutlich, wie schnell Evolution passieren kann, wenn die Umwelt sich ändert.
Tilo Arnhold
Weitere Informationen
Dr. Christian Anton
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Dr. Christian Anton
jetzt:
Nationale Akademie der Wissenschaften LEOPOLDINA
Telefon: 0345-47239-861
Dr. Christian Anton
oder
Tilo Arnhold
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
presse@ufz.de
0341-235 1269
Publikatíon
Jonathan Silvertown, Laurence Cook, Robert Cameron, Mike Dodd, Kevin McConway, Jenny Worthington, Peter Skelton, Christian Anton, Oliver Bossdorf, Bruno Baur, Menno Schilthuizen, Benoît Fontaine, Helmut Sattmann,
Giorgio Bertorelle, Maria Correia, Cristina Oliveira, Beata Pokryszko, Małgorzata Ożgo, Arturs Stalažs, Eoin Gill, Üllar Rammul, Péter Sólymos, Zoltan Féher, Xavier Juan (2011):
Citizen Science Reveals Unexpected Continental-Scale Evolutionary Change in a Model Organism. PloS One, 27.04.2011
http://dx.plos.org/10.1371/journal.pone.0018927
Weiterführende Links
Forschungsprojekt
www.evolutionmegalab.org/de_DE
Schwarzmündige Bänderschnecke:
de.wikipedia.org/wiki/Cepaea_nemoralis
Darwin-Jahr 2009:
www.darwin-jahr.de
www.darwinjahr2009.de
www.Nabu.de/schnecken
Das Museum für Naturkunde Berlin, seit Januar 2009 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, ist mit über 30 Millionen Sammlungsobjekten und einem Museum mit 6.600 Quadratmetern Ausstellungsfläche das größte deutsche
Naturkundemuseum und eines der fünf größten weltweit. Im Zentrum der Forschungen an heutigen wie ausgestorbenen Lebensformen stehen Fragen zur biologischen Vielfalt und zu den Ursachen morphologischer und genetischer
Vielgestaltigkeit der Organismen auf der Erde. 2009 hat das Museum Leben und Werk Charles Darwins mit der großen Sonderausstellung "Darwin - Reise zur Erkenntnis" gewürdigt.
www.naturkundemuseum-berlin.de
Der NABU ist mit rund 450.000 Mitgliedern und Förderern einer der größten Umweltverbände Deutschlands. Er unterhält eigene Forschungsinstitute und betreibt Umweltbildung. Seit 1899 realisiert er konkrete
Naturschutzprojekte und meldet sich zu Wort, wenn die Natur einen Anwalt braucht. Der NABU beteiligt sich an behördlichen Naturschutzverfahren und begutachtet Eingriffe in die Natur, um Umweltschäden zu vermeiden und
Lösungen vorzuschlagen. Der NABU ist in rund 1.500 lokalen Kreisverbänden und Gruppen in ganz Deutschland organisiert und vornehmlich ehrenamtlich tätig.
www.nabu.de
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina bringt exzellente Wissenschaftler zusammen, die Politik und Gesellschaft in relevanten wissenschaftlichen Fragen beraten. Hierfür greift sie Themen auf und
erarbeitet dazu, unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Interessen, wissenschaftsbasierte Expertisen. Mit dem Ziel, Zukunft zu gestalten, bringt sie diese zum Wohl der Gesellschaft in den nationalen und
internationalen politisch-gesellschaftlichen Diskurs ein. Durch Meetings, Symposien und Vorträge fördert sie den Austausch mit der Öffentlichkeit sowie unter Forscherinnen und Forschern.
www.leopoldina.org
Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg ungefähr 1.000 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.
Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit über 30.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 17 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 3 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).