Presseinformation vom 15. Juli 2014

Gesellschaftlicher Wandel für Nomaden problematischer als Klimawandel

Studie zu den Auswirkungen auf die Viehhaltung in Trockengebieten

Leipzig. Der gesellschaftliche Wandel könnte die Weideflächen in Trockengebieten weltweit stärker beeinflussen als der Klimawandel. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftlerinnen des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) und der Universität Köln, die dazu ökologische und gesellschaftliche Einflussfaktoren im Computermodell simuliert haben. Bis zu einem gewissen Grad könnten die Auswirkungen des Klimawandels durch eine erhöhte Mobilität der Viehherden ausgeglichen werden, schreiben die Wissenschaftlerinnen im Fachblatt „Global Environmental Change“. Der Bedarf nach höheren Einkommen und weniger verfügbares Weideland machten es jedoch den Nomaden zunehmend schwerer, ihre Herden umzutreiben und damit ihre Existenz zu sichern.

Ende Mai ziehen die Hirten der nomadisch lebenden Aїt Toumert mit ihren Herden auf die höher gelegenen Sommerweiden in Marokkos Hohem Atlas. Foto: Dr. Gisela Baumann/Universität zu Köln

Ende Mai ziehen die Hirten der nomadisch lebenden Aїt Toumert mit ihren Herden auf die höher gelegenen Sommerweiden in Marokkos Hohem Atlas. Die Zugangsrechte zu diesen fruchtbaren Weiden sind unter den Berber-Familien streng geregelt.
Foto: Dr. Gisela Baumann/Universität zu Köln

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Hirtennomaden im trockenen Südosten Marokkos besitzen ein großes Wissen über die Futterqualität und Verfügbarkeit der in ihrem Weidegebiet vorkommenden Pflanzen. Foto: Dr. Gisela Baumann/Universität zu Köln

Hirtennomaden im trockenen Südosten Marokkos besitzen ein großes Wissen über die Futterqualität und Verfügbarkeit der in ihrem Weidegebiet vorkommenden Pflanzen. Dieses Wissen ist eine der Grundlagen für ihre Mobilitäts-Entscheidungen (links im Bild: Dr. Anja Linstädter, Weideökologin an der Universität Köln und eine der Autorinnen des Artikels im Fachblatt „Global Environmental Change“ bei einem Interview mit lokalen Hirten).
Foto: Dr. Gisela Baumann/Universität zu Köln

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Die Trockengebiete der Erde machen etwa 40 Prozent der Landoberfläche weltweit aus. Viehhaltung ist dort die wichtigste Einnahmequelle, von der über eine Milliarde Menschen leben. Da die Niederschläge in diesen Regionen gering sind und unregelmäßig auftreten, haben viele Nomadenvölker ihre Lebensweise daran angepasst und ziehen mit ihren Herden dorthin, wo die Vegetation gerade die beste Nahrung für das Vieh bietet. Dadurch schonen sie gleichzeitig einen Teil des Weidelandes, das sich so regenerieren kann – eine positive „Nebenwirkung“ der Mobilität. Veränderte Klimabedingungen wie stärkere Schwankungen im Niederschlag könnten dieses empfindliche System stören. So wird beispielsweise für verschiedene Regionen im Nordwesten Afrikas mit einem Rückgang der Niederschläge von 10 bis 20 Prozent gerechnet.

Die Studie hatte deshalb das Ziel, jene Grenzen des Klimawandels aufzuzeigen, bis zu denen die Existenzgrundlagen für Haushalte mit Viehhaltung langfristig erhalten werden können, und hat dabei auch gesellschaftliche Veränderungen mit einbezogen. Dazu kombinierten die Wissenschaftlerinnen eine Risikobewertung mit einem ökologisch-ökonomischen Modell.

Bei der Auswertung zeigte sich, dass stärkere zeitliche Schwankungen bei den Niederschlägen die Viehhaltung weniger beeinträchtigen als ein Rückgang der durchschnittlichen jährlichen Niederschlagsmenge. Sozio-ökonomische Veränderungen wie ein erhöhter Bedarf an Einkommen verschoben die Toleranzgrenzen für Niederschlagsschwankungen nach oben. „Bis zu einem gewissen Grad ermöglicht die Mobilität den Nomaden, ihre Weidewirtschaft auch in weniger produktiven Systemen aufrechtzuerhalten und so negative Effekte des Klimawandels auszugleichen“, berichtet Dr. Romina Martin vom UFZ, die jetzt am Stockholm Resilience Centre forscht. Mit dem gestiegenen Bedarf an Einkommen und dem gesunkenem Zugang zu Weideland wird es jedoch zunehmend schwerer, diese Mobilität aufrechtzuerhalten.

„Auch wenn unser Modell auf nomadische Beweidungssysteme zielt und auf wenige Faktoren beschränkt ist, so spiegelt es doch die Konsequenzen des gewaltigen Landnutzungswandels in den Trockengebieten wider“, schildert Prof. Karin Frank vom UFZ. „Unser Ansatz beschränkt sich aber nicht nur auf die Erforschung von Beweidungssystemen. Er kann überall dort eingesetzt werden, wo die Dynamik von Ökosystemdienstleistungen eng mit der Existenzsicherung verbunden ist.“

„Unsere Ergebnisse unterstreichen, dass mit der Weidewirtschaft von umherziehenden Nomaden sensible Ökosysteme nachhaltig genutzt werden können und dass die Ökosysteme unter dieser Nutzungsweise flexibel genug sind, sich an veränderte Niederschläge und damit an den Klimawandel anzupassen“, betont Dr. Anja Linstädter von der Universität Köln. „Wir sollten daher das Nomadentum nicht einfach als überholte Tradition abtun“, ergänzt Dr. Birgit Müller vom UFZ. In vielen trockenen Regionen könne dies die einzige langfristig nachhaltige Nutzung sein – im Gegensatz zu intensiver Landwirtschaft, die dort zwar höhere Erträge ermöglicht, aber dafür Boden und Wasserressourcen so sehr übernutzt, dass schon nach kurzer Zeit keine Landwirtschaft mehr möglich ist. Aus Sicht der Autorinnen wirft dies auch ein Schlaglicht auf die Debatte um aus westlicher Sicht scheinbar ungenutzte Flächen in vielen Regionen Afrikas. In Wirklichkeit stellen sie als kommunales Weideland eine wichtige Lebensgrundlage für die lokale Bevölkerung dar.

In die Studie waren Forschungsergebnisse von Feldstudien im Atlasgebirge und der östlichsten Provinz Oriental in Marokko sowie aus dem Tibetischen Hochland eingeflossen, die im Rahmen zweier interdisziplinärer Projekte entstanden sind. Unter dem Dach des Projektes „IMPETUS“ der Universitäten Köln und Bonn hatten Klimatologen, Hydrologen, Geografen, Weideökologen und Ethnologen über zwölf Jahre die Folgen des Klima- und Landnutzungswandels auf Naturressourcen im Hohen Atlas Marokkos untersucht. Ihre Daten zu Niederschlagsschwankungen sowie zur Produktivität und Regenerationsfähigkeit der Weidevegetation bildeten die Grundlage für den ökologischen Teil des Modells. Der Schwerpunkt des Sonderforschungsbereichs „Differenz und Integration“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) lag dagegen auf der Erforschung des Lebens von nomadischen Völkern im sogenannten altweltlichen Trockengürtel. Dabei hatten über zehn Jahre lang Archäologen, Ethnologen, Geografen, Historiker und Orientwissenschaftler der Universitäten Halle und Leipzig zusammen mit Kollegen von anderen Instituten geforscht, denn seit über 5.000 Jahren existieren zwischen Marokko und Tibet nomadische und sesshafte Kulturen nebeneinander.

Bei der Vermittlung dieses Wissens wurden inzwischen auch unkonventionelle Wege eingeschlagen: Im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs „Differenz und Integration“ hatten Wissenschaftler des UFZ zusammen mit der Universität der Künste Berlin (UdK) ein Strategiespiel entwickelt, um die Zusammenhänge zwischen Landnutzung, Niederschlägen und Viehertrag einem breiten Publikum verständlich zu machen. Dabei schlüpfen bis zu sechs Spieler in die Rollen eines Hirtennomaden mit dem Ziel, ihr Kapital in Form von Schafen zu vergrößern. Dabei müssen sie Entscheidungen treffen, die nicht nur vom Zustand der Weiden sondern auch von den alltäglichen Herausforderungen in der Steppe abhängen. Das Brettspiel „NomadSed“ ist ab einem Alter von 10 Jahren geeignet und wird inzwischen auch für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit eingesetzt, so zum Beispiel von der Organisation „Tierärzte ohne Grenzen“ in Kenia.
Tilo Arnhold

Publikation

Martin, R., Müller, B., Linstädter, A., Frank, K. (2014):
How much climate change can pastoral livelihoods tolerate? Modelling rangeland use and evaluating risk. Global Environmental Change 24, 183–192.
http://dx.doi.org/10.1016/j.gloenvcha.2013.09.009
Die Untersuchungen wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 586 "Differenz und Integration", dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) durch das Projekt IMPETUS sowie der Helmholtz-Gemeinschaft gefördert.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Karin Frank, Dr. Birgit Müller
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Telefon: +49-(0)341-235-1279, -1708
Prof. Dr. Karin Frank
Dr. Birgit Müller

Dr. Romina Martin (geb. Drees)
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), z.Z. am Stockholm Resilience Centre
Telefon: +46 76 70 60 676
Dr. Romina Martin
www.stockholmresilience.org/21/contact/staff/9-12-2013-martin.html

Dr. Anja Linstädter
Universität Köln
Telefon: +49-(0)221-470-7905
Dr. Anja Linstädter

oder

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
Tilo Arnhold, Susanne Hufe (UFZ-Pressestelle)
Telefon: +49-(0)341-235-1635, -1630

Weiterführende Links

DFG-Sonderforschungsbereich 586 "Differenz und Integration"
www.nomadsed.de/home/

Ausstellung Brisante Begegnungen
www.voelkerkundemuseum.com/306-0-Brisante-Begegnungen-Nomaden-in-einer-sesshaften-Welt.html

„Verteilungskämpfe der Nomaden - Forschungsprojekt von Wissenschaftlern aus Leipzig und Halle“ (Deutschlandfunk, 31.07.2008)
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Projekt IMPETUS
www.impetus.uni-koeln.de/projekt.html

Helmholtz-Graduiertenschule HIGRADE
www.ufz.de/higrade

„NomaSed“ – Nachhaltigkeit spielend erleben
www.nomadsed-spiel.de

Strategien für eine nachhaltige Landnutzung in Trockengebieten (UFZ-Newsletter Dezember 2012):
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Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg über 1.100 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit fast 36.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 18 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 3,8 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).