Getreidefeld. Foto: André Künzelmann/UFZ. Grafik: Adapted from FAO

2. August 2022

Mehr Widerstandsfähigkeit gegen Ernährungskrisen

Ein Standpunkt von Prof. Dr. Reimund Schwarze, Umweltökonom am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig.


Die russische Invasion in der Ukraine gefährdet die Ernährungssicherheit von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt, insbesondere in den Ländern des nördlichen Afrikas. Humanitäre Hilfen aufzustocken reicht in dieser Lage nicht. Wir brauchen Strategien, um die Konfliktanfälligkeit der Nahrungsmittelsysteme der Welt zu überwinden. 


Schätzungsweise 30 Prozent der weltweiten Weizenlieferungen im Jahr 2021 entfielen auf Russland und die Ukraine. Sie sind zentrale Lieferanten anderer wichtiger Produkte wie Sonnenblumenöl (55 %) und Düngemittel (FAO, 2022). Der Ukraine-Krieg beeinträchtigt die Exporte durch die Schädigung der Anbauflächen, die Unterbrechung der Exporte aufgrund der instabilen oder blockierten Versorgungswege und die Bedrohung landwirtschaftlicher Beschäftigter durch Gewalt, Blindgänger im Boden.

Mit jedem weiteren Tag, an dem die Landwirte ihre Arbeit aufschieben müssen, gehen die Erträge zurück oder sie fallen sogar ganz aus. Selbst bei den bereits geernteten Getreide- und Ölprodukten drohen noch hohe Verluste, weil auch Lagerräume nicht sicher sind. Im Gegenzug sind auch die russischen und weißrussischen Exporte von Sanktionen und Ausfuhrverboten betroffen und fehlen am internationalen Markt.

Die Lebensmittelpreise schießen nach oben und übertreffen mittlerweile sogar die Preiskrise von 2008/09 (World Bank 2022). Der FAO-Getreidepreisindex (Stand: Juni 2022) ist im Vergleich zum letzten Jahr (2021) um 36 Punkte (27,6 Prozent) gestiegen und hat damit den höchsten Stand seit 1990 erreicht (s. Abb.1). Der Preisanstieg liegt damit heute höher als nach der weltweiten Finanzkrise 2008/09, die zu den historischen „Brotaufständen“ in den Ländern Nordafrikas geführt hat.


Abb. 1: FAO-Getreidepreisindex

FAO-Getreidepreisindex von 1990 - 2022

Quelle: FAO


Der Preisanstieg hat aktuelle und strukturelle Ursachen. Die durch den Klimawandel zunehmende Zahl von Dürren und der weltweit wachsende Fleischkonsum spielen ebenso eine strukturelle Rolle wie die aktuellen Störungen im Welthandel durch die COVID-Krise. Der jetzige, erneute Sprung über die 160-Punkt-Marke signalisiert allerdings eine akute Gefährdungslage für die globale Versorgungsunsicherheit. Paradoxerweise führen nationale Schutzmaßnahmen wie Exportbeschränkungen von Getreide wie z.B. in Indien oder Serbien zu krisenverstärkenden Effekten. Sie erhöhen das Tempo und die Intensität, mit denen die Preisschwankungen andere Länder erreichen. In vielen Fällen schnellten die Lebensmittelpreise in Nordafrika und Asien schon in die Höhe, bevor die Lebensmittelknappheit aktuell überhaupt eintrat. Hinzu kommen die weltweit steigenden Energiekosten.

Da viele Düngemittel zumindest teilweise auf fossilen Brennstoffen basieren, steigen ihre Kosten auch mit den Energiepreisen. Der drastische Anstieg der Energie- und Getreidekosten gefährdet das Welternährungssystem und lässt das Milleniumsziel „Zero Hunger“ in weite Ferne rücken. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) berichtete im Mai im Gegenteil von einem Höchststand des Hungers in der Welt bei sinkenden Mitteln zur Hungerbekämpfung. Das hat mit dem Ukraine-Krieg zu tun. Denn vor dem Krieg bezog das WFP die Hälfte seines Weizens aus der Ukraine.

Warum wieder Hunger im Nahen Osten und Nordafrika?

Während die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in der EU derzeit nicht gefährdet ist, sind die Weizen importierenden Länder im Nahen Osten, in Nordafrika und den Länder südlich der Sahara akut krisengefährdet. Grund: Sie sind in besonderem Maße von Importen aus der Ukraine und Russland abhängig. Die Länder der Region Subsahara importieren beispielsweise 85 Prozent ihres Weizenbedarfs, wovon ein Drittel aus Russland oder der Ukraine stammt (Kammer et al. 2022). Aber es ist nicht die hohe Abhängigkeit von Getreideimporten in dieser Region, sondern ursächlich eine Häufung von besonderen Verletzlichkeiten gegenüber Versorgungsstörungen. Diese wiederum sind bedingt durch die zahlreichen Regionalkriege, extreme Ungleichheiten in der Region und anhaltende soziale Spannungen, durch häufigen Heuschreckenbefall, Wasserknappheit und andere Bedrohungen durch den Klimawandel, wie ein Gemeinschaftsbericht von sechs UN-Organisationen (FAO u.a. 2021) feststellt. Damit einher gehen ein hohes Bevölkerungswachstum und starke Migrationsbewegungen. Diese sogenannten verbundenen Verletzlichkeiten („compound vulnerabilities“) vergrößern den durch den Ukraine-Krieg ausgelösten externen Schock. Und damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass soziale Kippunkte in der Region überschritten werden.

Wege zur Ernährungssicherheit

In der Wissenschaft und Praxis wurde eine Reihe von Schlüsselmaßnahmen identifiziert, um Ernährungssicherheit in Zeiten von Konflikten zu gewährleisten (vgl. z.B. Kemmerling et. al. 2022; UN Food System Summit 2021).

Menschenrecht auf Nahrung einhalten. Nahrung ist als Menschenrecht in der UN-Charta definiert. Staaten und nichtstaatliche Akteure wie z.B. internationale Organisationen müssen das Recht der Menschen auf Zugang zu angemessener Nahrung respektieren, schützen und erfüllen. Insbesondere schützt das humanitäre Völkerrecht den Zugang zu Nahrungsmitteln in bewaffneten Konflikten. Wenn die Zivilbevölkerung hungert, ein hohes Maß an Entbehrung erleidet oder ihr Überleben bedroht ist, müssen kriegführende Parteien Hilfsmaßnahmen zulassen und erleichtern. Das Problem ist: Wie erreicht man, dass sich alle Konfliktparteien an diese Regeln halten? Voraussetzung dafür ist, dass die internationalen Mechanismen der Verantwortlichkeit verbessert werden. Die UN-Sicherheitsrat-Resolution 2417 aus dem Jahr 2018 war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Sie legt fest, dass die Behinderung des humanitären Zugangs in Konfliktsituationen gezielte Sanktionen nach sich ziehen kann, wie sie bereits in der Vergangenheit gegen die militante islamistische Bewegung Al Shabaab in Somalia verhängt wurden (Akande et al. 2019). Diese Lösung scheint für Russland als Mitglied des Sicherheitsrats allerdings ungeeignet.

  • Dysfunktionalitäten der kurzfristigen Nahrungsmittelhilfe vermeiden. Kurzfristige Nahrungsmittelhilfe konzentriert sich auf die akute Verbesserung der Nahrungsmittelverfügbarkeit für die am stärksten vom Hunger betroffenen Menschen in der Region. Hilfseinsätze in Bürgerkriegskontexten stehen jedoch oft vor der Herausforderung, die Bedürftigsten zu identifizieren, rechtzeitig zu erreichen und angemessen zu versorgen (Tranchant et al. 2019). Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Nahrungsmittelhilfe selbst zu einer Quelle von Konflikten wird, vor allem aufgrund eines unzureichenden Verständnisses des Konfliktkontexts (Devereux 2000). Effektive Lösungen erfordern daher ein umfassendes Verständnis des jeweiligen spezifischen Kontextes. Das gelingt nur, indem lokale Kapazitäten in die Nahrungsmittelhilfe einbezogen werden.

  • Hunger als Kriegsmittel ächten. Im Krieg mit Russland – der, was hier nicht außer Acht bleiben darf, in hohem Maße auch Leid und Hunger in der Ukraine hervorbringt! – geht es darum, dass Hunger als Mittel der Kriegsführung verboten wird und als Grundlage für die Verhängung von UN-Sanktionen herangezogen werden kann. Gefordert wird darüber hinaus, dass neue Regeln in das Völkerrecht aufgenommen werden, die ausdrücklich einen Schutz für Infrastrukturen und Aktivitäten im Zusammenhang mit Nahrungsmittelsystemen (landwirtschaftliche Flächen und Gewässer, landwirtschaftliche Betriebe, Feldfrüchte, Viehbestand und Fischerei usw.) als „nicht militärische“ Ziele vorsehen.

Ein wichtiges Thema über die unmittelbare Krisenbewältigung hinaus bleibt die Transformation der globalen Agrar- und Ernährungssysteme hin zu größerer Resilienz - verstanden als Fähigkeit, sich auf kriseninduzierte Störungen einzustellen, sich darauf vorzubereiten, sie zu absorbieren und sich davon zu erholen (OECD 2022). Denn nur resiliente Agrar- und Ernährungssysteme, eine Stärkung von lokaler Produktion und regionalem Handel sowie die Vermeidung einseitiger Abhängigkeiten sind geeignet, um alle Länder mittel- und langfristig widerstandsfähiger gegen Ernährungskrisen zu machen.

Fazit

Gewaltsame Konflikte führen direkt oder indirekt über Risikokaskaden zu „Schocks", die sich auf das Welternährungssystem auswirken können. Sie prägen sich regelmäßig bei den verletzlichsten Gliedern einer Risikokaskade (hier das nördliche Afrika und der Nahe Osten) aus. Bevölkerungswachstum, soziale Spannungen und der Klimawandel verstärken die Gefahr von Hunger und Ernährungsunsicherheit, sie sind aber nicht deren Ursache („root cause“). Die Ursache liegt in Nahrungsmittelsystemen, „die nicht in der Lage sind, erschwingliche, vielfältige, sichere und nahrhafte Lebensmittel für alle zu liefern", wie der stellvertretende Direktor der FAO, Abdul Hakim Elwaer, kürzlich bei der Vorstellung des UN-Berichts über Ernährungssicherheit und Ernährung im Nahen Osten und in Nordafrika (2021) feststellte. Sie liegen also ursächlich in den Verletzlichkeiten.

Die tiefgreifende Krise an den Agrar- und Lebensmittelmärkten nach der gewaltsamen Besetzung der Ukraine durch Russland führt uns vor Augen, dass wir die Umstellung unserer Lebensmittelsysteme auf Nachhaltigkeit und Resilienz weltweit beschleunigen müssen. Das Menschenrecht auf Nahrung muss eingehalten, Hunger als Kriegsmittel geächtet, die Infrastrukturen von Nahrungsmittelsystemen als „nicht militärische“ Ziele geschützt werden, damit die akute Gefährdungslage für die globale Ernährungssicherheit durch den Ukraine-Krieg verhindert werden kann.
 

Quellen:

Akande, D. & Gillard, E. (2019). Conflict-induced Food Insecurity and the War Crime of Starvation of Civilians as a Method of Warfare: the Underlying Rules of International Humanitarian Law. BSG Working Paper 2019/030. https://www.bsg.ox.ac.uk/research/publications/conflict-induced-food-insecurity-and-war-crime-starvation-civilians-method (accessed 28 July 2022).

Devereux, S. (2000). Famine in the twentieth century. IDS Working Paper 105, Brighton: IDS.

FAO, IFAD, UNICEF, WFP, WHO and ESCWA (2021). Regional Overview of Food Security and Nutrition in the Near East and North Africa 2020 - Enhancing resilience of food systems in the Arab States. Cairo, FAO.

Kammer, A.; Azour, J.; Selassie, A. A.; Goldfajn, I. & Rhee, C. (2022). How War in Ukraine Is Reverberating Across World’s Regions. In: IMF Blog. March 15. https://blogs.imf.org/2022/03/15/how-war-in-ukraine-is-reverberating-across-worlds-regions/ (accessed 27.05.2022).

Kemmerling, B.; Schetter ,C. & Wirkus, L. (2022). The logics of war and food (in)security, Global Food Security, Volume 33, 100634. https://doi.org/10.1016/j.gfs.2022.100634.

OECD (2022). Taking a holistic approach to agricultural risk management. https://www.oecd.org/agriculture/topics/risk-management-and-resilience/ (accessed 20.7.2022).

Tranchant, J. P., Gelli, A., Bliznashka, L., Diallo, A. S., Sacko, M., Assima, A. & Masset, E. (2019). The impact of food assistance on food insecure populations during conflict: Evidence from a quasi-experiment in Mali. World Development, Volume 119, 185-202, https://doi.org/10.1016/j.worlddev.2018.01.027.

UN Food Systems Summit (2021). Action Tracks. https://www.un.org/en/food-systems-summit/action-tracks (accessed 27.7.2022).