Negative Emissionen – Hoffnungsträger oder trojanisches Pferd der Klimapolitik?

Ein Standpunkt der UFZ-Sozialwissenschaftlerin Dr. Silke Beck

Silke Beck Dr. Silke Beck, Foto: Susan Walter


Das Paris Abkommen von 2015 wurde als überraschender Erfolg der internationalen Diplomatie gefeiert, da Staaten weltweit das Ziel beschlossen haben, die Erderwärmung unter 2 Grad Celsius zu begrenzen. Trotz eines jahrelangen politischen Verhandlungsmarathons ist jedoch zu befürchten, dass die CO2-Emissionen kontinuierlich weiter ansteigen werden. Angesichts dieser ernüchternden Tatsachen stellt sich derzeit die Frage, ob die ambitionierten klimapolitischen Ziele überhaupt noch erreichbar sind.

Im Vorfeld von Paris hatte der Weltklimarat IPCC den wissenschaftlichen Nachweis erbracht, dass das noch möglich ist. Um die Lücke zwischen politischen Ambitionen und faktischen Emissionen zu schließen, wurden in den Integrated Assessment Modellen (IAM), die das wissenschaftliche Fundament des Weltklimarats bilden, sogenannte Negative Emissionen (NETs) eingeführt. Die Modellprojektionen beruhen auf der Annahme, dass es technologisch möglich ist, das in die Atmosphäre ausgestoßene Kohlendioxid wieder zurückzugewinnen und zu speichern. Als eine der vielversprechendsten Technologien hierfür wird BECCS gehandelt – die Umwandlung von Bioenergie mit Abscheidung und Speicherung des CO2 im Untergrund (CCS – Carbon Capture and Storage). Als im Zuge der Ernüchterung der Paris-Euphorie realisiert wurde, in welch gigantischem Ausmaß der Weltklimarat Negative Emissionen zur Begrenzung der Erderwärmung in seine Projektionen einrechnet, entzündeten sich sowohl in der Klimaforschung als auch in der Klimapolitik heftige Kontroversen um die Größenordnung, Risiken und Potenziale dieser Technologien.

Zum einen beruht die Idee, man könne das Emissionsbudget überziehen, auf der Annahme, dass entsprechende Technologien einfach verfügbar sind. Viele NETs existieren nur in den Modellen, sie sind heute noch weit von ihrer Erprobung, geschweige denn von ihrer Serienreife entfernt. Darüber hinaus hätten sie – geht man von der in den Modellen angenommenen Größenordnung aus – gravierende Auswirkungen auf Landnutzung, Ökosysteme und Ernährungssicherheit: Zur Erreichung des 2-Grad-Ziels würden grob geschätzt bis zu 800 Gigatonnen Kohlendioxid aus der Erdatmosphäre entfernt werden müssen. Das entspräche in etwa der 20-fachen Menge der aktuellen Weltemissionen pro Jahr. Für den Anbau der Biomasse würden 500 Millionen Hektar zusätzliches Ackerland – die anderthalbfache Fläche Indiens – benötigt.

Zum anderen handelt es sich um eine politisch riskante Wette auf die Zukunft, der zufolge sich mithilfe bestimmter Technologien das Emissionsbudget – ähnlich wie bei einem Bankkredit – zunächst kurzfristig überziehen und dann im Laufe des 21. Jahrhunderts wieder ausgleichen lässt. Der Weltklimarat bricht hier mit einem politischen Tabu: Während er in früheren Berichten davor gewarnt hat, dass bestimmte, „gefährliche“ Grenzen wie das 2-Grad-Ziel nicht überschritten werden dürfen, geht er heute davon aus, dass die Menschheit ihren bereits in Anspruch genommenen Kredit beim CO2-Budget überziehen und dann in der Zukunft mit Zinsen zurückzahlen kann. Mit dem Überziehen des Budgets wird die Verantwortung, Emissionen zu reduzieren, von gegenwärtigen auf zukünftige Generationen übertragen. Fragen der politischen Gestalt- und Umsetzbarkeit sowie ihrer Auswirkungen vor Ort werden jedoch – das zeigen die Diskussionen zu Biokraftstoffen und Carbon Capture and Storage (CCS) – mittelfristig sowohl in der Politik als auch in der Forschung an Gewicht gewinnen. Viele der CCS-Feldexperimente in Brandenburg oder in der Lausitz waren wissenschaftlich-technisch realisierbar, stießen aber auf massiven Widerstand der lokalen Bevölkerung. Wie zäh die Konsenssuche vor Ort verlaufen kann, sehen wir bei der Suche nach Stromtrassen und Atomendlagern.

Die NGOs vergleichen NETs mit einem „Trojanischen Pferd“. Der Weltklimarat habe sie wie ein vermeintlich harmlos aussehendes Objekt, das Angreifer zur Tarnung verwendet, in die klimapolitischen Entwicklungspfade integriert und präsentiere diese als einzig möglichen Plan A der zukünftigen Klimapolitik. Wenn NETs dazu beitragen so weiterzuleben wie bisher, anstatt alternative Entwicklungspfade und gesellschaftliche Transformationen wie die Wärmewende anzustoßen, dann handelt es sich um einen moralischen Sündenfall per excellence, der jegliche Bemühungen um Nachhaltigkeit zunichte macht. Interessanterweise projizieren sowohl Befürworter als auch Gegner alle ihre Hoffnungen (auf zukünftige Technologiesprünge) und Ängste (in Bezug auf ihre nicht-intendierten Folgen) auf NETs und neigen dazu, ihre Wirkungen im guten wie im schlechten Sinne zu überschätzen. Das führt zu einer Polarisierung der klimapolitischen Diskussion. Eine besondere Wende erhält die Diskussion nun dadurch, dass NGOs – ähnlich wie die Klimaskeptiker zuvor – beginnen, nicht nur die zentralen Aussagen, sondern auch die Vertrauenswürdigkeit des Weltklimarats zu hinterfragen. Dies führt zu einer riskanten Engführung der politischen Diskussion auf eine Stellvertreter-Kontroverse, in der die Diskussion um die Zukunft der Klimapolitik von der Politik zurück in den IPCC verlagert wird und als Debatte um die Potenziale von spekulativen Technologien ausgetragen wird. Das trägt letzten Endes dazu bei, die dringend erforderliche politische Entscheidungsfindung zu vertagen und zu blockieren.

Bleibt Klimapolitik folglich nur die Möglichkeit, mit Hoffnungen und Enttäuschungen Politik zu machen? Um der Diskussion um zukünftige Klimapolitik pragmatisch vom Wunschdenken hin zu mehr Bodenhaftung zu verhelfen, muss Forschung auf ein breiteres Fundament als Integrated Assessment Modelle gestellt werden. Sie muss Aspekte wie Auswirkungen auf Landnutzung, Ökosysteme und gesellschaftlichen Folgen (und nicht-intendierte Effekte wie Rebound) auf unterschiedlichen Ebenen systematisch einbeziehen. Insofern könnte es sich lohnen, die gesellschaftliche Debatte bald zu beginnen und politisch die Frage neu aufzurollen, welchen Beitrag NETs für Umwelt- und Energiepolitik tatsächlich leisten können und sollen und welche Auswirkungen sie auf Energiewende, Agrarpolitik und andere politische Groß-Projekte haben. Gerade weil die Folgen dieser Technologien unbekannt und möglicherweise gravierend sind, sollte sich die Diskussion nicht frühzeitig auf eine Option festlegen, sondern ein möglichst breites Spektrum an Entwicklungspfaden und Alternativen offenhalten.

Dr. Silke Beck

Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Silke Beck forscht am UFZ-Department Umweltpolitik im Feld der Technologieabschätzung sowie Umweltforschung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Schnittstellen von Wissenschaft und Gesellschaft, Governance der Forschung und vergleichende Umwelt- und Klimapolitik. Im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms (SPP) 1689 leitet sie gemeinsam mit Prof. Dr. Daniel Barben (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) das Forschungsprojekt CE-SciPol2 . Darin wird untersucht, welche Auswirkungen das Paris-Abkommen auf internationale Diskussionen in Bezug auf den Einsatz von Climate Engineering in Forschung und Klimapolitik hat.