Citizen Science: Forschung für alle oder Forschen mit allen? 

Ein Standpunkt der UFZ-Wissenschaftlerin Dr. Anett Richter

Anett Richter Dr. Anett Richter, Foto: Sebastian Wiedling


Unter dem Begriff Citizen Science, zu Deutsch Bürgerwissenschaften oder Bürgerforschung, hat sich in den vergangenen Jahren eine neue Form des wissenschaftlichen Miteinanders entwickelt. Der Begriff umschreibt das gemeinsame Forschen von ehrenamtlich aktiven Bürgerinnen und Bürgern, in der Regel in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen. Das Engagement für die Wissenschaft reicht von der kurzfristigen Datensammlung bis zur intensiven Nutzung der Freizeit, bei der sich ehrenamtlich Forschende zu echten Experten auf ihrem Fachgebiet entwickeln können.

Die Ziele von Citizen Science sind vielfältig. Vor allem geht es darum, neues Wissen zu generieren. Das ist und bleibt natürlich vorrangig Aufgabe der Wissenschaft. Doch insbesondere dann, wenn viele, großflächige oder schwer zugängliche Daten und Informationen erfasst werden müssen, sind die personellen Kapazitäten der Wissenschaft schnell erschöpft – so zum Beispiel beim Monitoring von Insekten, Vögeln oder Amphibien. Bürgerwissenschaften schaffen aber auch einen gesellschaftlichen Mehrwert, denn sie bauen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Indem sie das Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten oder den Zugang zu Forschungsergebnissen fördern, verankern sie die Wissenschaft in der gesellschaftlichen Mitte und erhöhen deren Akzeptanz und Glaubwürdigkeit. Diese Wirkung entfaltet Citizen Science auch an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik. So verbessern bürgerwissenschaftliche Projekte die Kommunikation zwischen Interessensgruppen oder fördern soziale Netzwerke und politisches Engagement.

Das Potenzial von Citizen Science ist in den vergangenen Jahren lebhaft diskutiert worden. Im Rahmen des Programms „Bürger schaffen Wissen – Wissen schafft Bürger (GEWISS)“ hat das UFZ diesen Dialogprozess maßgeblich (mit)gestaltet. Eines der wichtigsten Ergebnisse ist die „Citizen Science-Strategie 2020“ für Deutschland, die 2016 verabschiedet wurde. Sie formuliert konkrete Maßnahmen, die Citizen Science in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik ausbauen und stärken sollen. Eine, insbesondere in der Wissenschaft geforderte Maßnahme, ist die Etablierung von Förderstrukturen, die sich an den speziellen Anforderungen von Citizen Science orientieren. Das Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF) reagierte schnell und veröffentlichte im August 2016 eine erste Förderrichtlinie. Dreizehn sogenannte Leuchtturmprojekte aus den Bereichen Nachhaltigkeit, Umwelt, Gesundheit, Digitalisierung und Technik sowie Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften wurden daraufhin ins Leben gerufen. Eine zweite, umfangreichere und über die Legislaturperiode hinausgehende Förderrichtlinie sowie die Integration von Bürgerforschung in andere Förderprogramme (zum Beispiel FONA, Helmholtz 2020, BMBF-Leitinitiative zur Artenvielfalt, Wissenschaftsjahre) wären der nächste konsequente Schritt.

Aber auch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wird Citizen Science mehr und mehr angenommen. Neben den zahlreichen etablierten Umweltmonitoring-Projekten, wie dem am UFZ seit mehr als zehn Jahren koordinierten Tagfalter-Monitoring Deutschland, werden Aktivitäten aus anderen Fachdisziplinen wie den Geistes- und Sozialwissenschaften sichtbar. Einen Überblick über die Vielfalt der mittlerweile über 100 Citizen Science-Projekte in Deutschland gibt es auf der Plattform buergerschaffenwissen.de.

Trotz dieses großen Zuspruchs wird Citizen Science weiterhin kritisch diskutiert – dies zeigt auch eine aktuelle Umfrage in der Helmholtz-Gemeinschaft. Mangelnde Datenqualität, fehlende Standards und kaum erprobte Methodiken sind demnach Ursachen für Wissenschaftler, Citizen Science nicht in die eigene Forschungspraxis zu integrieren. Hier gilt es zum einen, die entsprechenden Richtlinien und Standards zu entwickeln, zum anderen Plattformen aufzubauen, die den wissenschaftlichen Austausch ermöglichen. Ergänzend dazu wird Citizen Science mehr und mehr selbst zum Forschungsgegenstand. So untersuchen Forschende der Partizipationsforschung, inwieweit Citizen Science die Wirksamkeit von Forschung optimiert und in welchem Maß Abgrenzung, Anpassung und Vereinbarkeit von Citizen Science mit zum Beispiel dem Konzept der Bildung für Nachhaltige Entwicklung möglich ist. Auch Fragen zur Wirkung von Citizen Science auf die menschliche Gesundheit sowie zur Erlangung von digitalen Kompetenzen sind potenzielle Forschungsthemen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Bürgerwissenschaften in den vergangenen Jahren deutlich professionalisiert haben. Citizen Science ist kein neues Thema mehr, dessen Existenz zu hinterfragen ist. Es geht auch nicht mehr vordergründig um die Frage nach der „Forschung für alle oder Forschen mit allen“. Vielmehr stellt sich die Frage, wie wir das gemeinsame Forschen zukünftig gestalten wollen. Gemeinsam Wissen schaffen mit und für die Gesellschaft stellt zugleich eine Herausforderung und Chance für Innovation dar. Erst durch einen lebendigen Diskurs, kritische Reflexion und gezielte Forschung zu den Chancen dieser neuen Form der Zusammenarbeit kann Citizen Science sein Potenzial entfalten. Es geht dabei nicht nur um Citizen Science als Motor von Innovationen, sondern auch um den klaren Appell zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung.

Aus meiner Sicht bietet Citizen Science eine hervorragende und wunderbare Möglichkeit, gemeinsam – mit vielen Köpfen, Augen und Herzen – neues Wissen zu genieren und über den Austausch, über Dialoge und Diskussionen Veränderungen in und zwischen Wissenschaft und Gesellschaft anzustoßen. Auf diese Weise kann es gelingen, Verständnis und Vertrauen in und für Wissenschaft (wieder) aufzubauen. Es liegt noch viel Arbeit vor uns – packen wir es gemeinsam an!
 

Dr. Anett Richter

Dr. Anett Richter, Jahrgang 1977, ist promovierte Ökologin und seit vielen Jahren in der Naturschutzforschung tätig. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und am Deutschen Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) koordinierte sie von 2014 bis 2016 im Rahmen des BMBF-Programms „BürGEr schaffen WISSen – Wissen schafft Bürger“ (GEWISS) das Grünbuch „Citizen Science-Strategie 2020“ für Deutschland. Zurzeit entwickelt sie Citizen Science-Projekte zur Insektenforschung, zu urbanen Biodiversitäts-Hotspots und zur Klimaforschung