Auf eine andere Art mit der Welt in Beziehung treten

Ein Interview mit dem Jenaer Soziologen Prof. Dr. Hartmut Rosa


Die Lebenswelt des modernen Menschen beschleunigt sich immer mehr. Prozesse und Abläufe haben ein zunehmendes Tempo, das viele Menschen in gesellschaftlichen, arbeitsweltlichen und alltäglichen Zusammenhängen belastet, überfordert und damit deren Lebensqualität einschränkt. Für den Jenaer Soziologen Prof. Hartmut Rosa liegen die Ursachen in der Logik moderner Gesellschaften. Und dennoch gibt es Auswege aus der Steigerungsspirale aus permanentem Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung. Diese zeichnete Hartmut Rosa in einem beeindruckenden Vortrag als Gastredner der Helmholtz Environmental Lecture vor: Er setzt auf Resonanz-Erfahrung. 

Rosa Prof. Dr. Hartmut Rosa, Foto André Künzelmann


Herr Rosa, viele Menschen haben das Gefühl, dass mit dem Aufkommen des Internets eine immer größere Beschleunigung der Lebenswelt einhergeht. Ist dies ein aktuelles Problem, dass unsere Vorfahren gar nicht kannten?

Hartmut Rosa: Die Menschen im 18. und 19. Jahrhundert erlebten und erfühlten mit dem Aufkommen des Kapitalismus eine ähnliche Beschleunigung ihrer Lebenswelt wie wir heute. Von Johann Wolfgang von Goethe stammt das Zitat: „Die Zeit überschlägt sich wie ein Stein vom Berge herunter, und man weiß nicht, wo sie hinkommt und wo man ist.“ Die Umstellung auf den Modus dynamischer Stabilisierungen, wie ich es nenne, folgt seit dieser Zeit in der Wirtschaft der Formel Geld – Ware – mehr Geld. In der Wissenschaft gilt: Wissen – Forschen – mehr Wissen.

Liegen die Ursachen in der Logik der kapitalistischen Verwertung, dem Drang zur Profitmaximierung, im Realisieren von permanentem Wachstum?

Hartmut Rosa: Es ist eine strukturelle Frage der Gesellschaftsentwicklung. Eine moderne Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag. Das bedeutet, dass sie auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen ist, um sich zu erhalten und zu reproduzieren. Dies nenne ich die Eskalationslogik der Moderne. Insofern stimmt es, dass die Moderne mit dem Aufkommen des Kapitalismus eng verbunden ist. Kein Mensch investiert in eine Fabrik oder eine McDonalds-Filiale, wenn nicht die Aussicht besteht, dass am Ende mehr herauskommt, als hineingesteckt wurde. Das ist das Kennzeichen der Moderne.

Ich bin mir aber gar nicht so sicher, dass der Kapitalismus an allem schuld ist. Klar ist die Steigerungslogik strukturell in ihn eingeschrieben. Ich glaube aber, dass wir sie ebenso in anderen Institutionen beobachten können. Die gleiche Logik herrscht auch im Wissenschaftssystem. Geld wird nur investiert, wenn es ein Steigerungsversprechen gibt: Mehr Doktoranden, mehr Publikationen, mehr Drittmittel, mehr internationale Kooperationen usw. Wissenschaft soll eben Wissen nicht bewahren, sondern sie muss neues Wissen schaffen. Die Wissenschaftler setzen darauf, dass andere nachkommen, die über sie hinausgehen und ihre Erkenntnisse wertlos machen.

Nehmen wir noch die Kunst. Da geht es nicht darum, ein Stilideal oder die Natur nachzuahmen, sondern originell und innovativ zu sein, und über das hinauszugehen, was man bisher hatte.

Sind Wachstum und Beschleunigung ein untrennbares Zwillingspaar?

Hartmut Rosa: Im Grunde genommen sind sie es. Und dies hat mit dem – wie ich es nenne – Programm der Weltreichweitenvergrößerung zu tun. Für mich ist der kategorische Imperativ der Moderne: Handle jederzeit so, dass deine Weltreichweite größer wird. Dies erfolgt durch die Vermehrung von Gütern, Kontakten und Optionen.

Alle modernen Ausformungen des Kapitalismus, sei es der rheinische, der angelsächsische oder der asiatische, teilen diesen Steigerungszwang.
Wir sind aber nicht nur die Opfer der Entwicklung, die über uns hinweg geht, sondern wir bekommen ein kulturelles Versprechen, fast eine Verheißung. Denn uns wird ein Versprechen der Weltreichweitenvergrößerung gegeben.

Wenn der Mensch vor einer Entscheidung steht, dann wählt er die größere Verfügbarkeit der Welt. Vorausgesetzt, das Geld dafür ist vorhanden, dann wählt man in der Regel die Chance, sich einen Shopping-Flug nach New York zu kaufen oder eine Yacht zuzulegen, wenn man sehr reich ist.

Warum ist ein Smartphone interessant, obwohl wir alle darauf schimpfen? Weil ich meine Weltreichweite vergrößere, denn ich habe alle meine Freunde und die Kontakte zu ihnen in der Hosentasche und bin selbst erreichbar für alle. Ich kann alle Musik der Welt hören, bringe sie in meine Reichweite. Ich lerne Englisch und vergrößere meine Reichweite zur Welt, weil ich im Internet oder in der persönlichen Kommunikation mit Menschen ohne deutsche Sprachkenntnisse alles verstehen kann.

Weitere Beispiele, die auf permanentes Wachstum und Beschleunigung hindeuten: Um 1900 beherbergte jeder mitteleuropäische Haushalt im Durchschnitt etwa 400 Objekte. Heute sind es 10 000, deren Umschlagsgeschwindigkeit auch deutlich gewachsen ist.

Die Zahl der Kontakte ist ebenso eskalatorisch angestiegen. Ein amerikanischer Sozialwissenschaftler hat berechnet, dass der durchschnittliche Pendler, der täglich von Connecticut nach New York und zurück fährt, an einem Tag mehr Menschen persönlich und virtuell über Smartphone und soziale Medien begegnet, als dem mittelalterlichen Mensch in seinem ganzen Leben begegnet sind.

Ein weiteres Beispiel: Das geringe Wirtschaftswachstum in Deutschland von lediglich 0,7 Prozent im Krisenjahr 2008 entspricht genauso viel Gütern, wie sie im gesamten deutschen Kaiserreich von 1871 bis 1918 produziert wurden. Die durchschnittliche Erhaltungsdauer von Gütern sinkt aber, die materiellen Stoffströme weltweit werden immer gewaltiger.

Ihre These ist: Mit dem Zeitgewinn durch den technischen Fortschritt entsteht aber Zeitnot. Bitte erklären Sie, warum das so ist.

Hartmut Rosa: Für die vielen Güter, Optionen und Kontakte, die wir haben, stehen trotzdem nur 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Im Durchschnitt haben sie jetzt also für jeden Einzelkontakt und jedes Einzelgut viel weniger Zeit. Geld und Technik ermöglichen eine Reichweitenvergrößerung, sind eine Potenz. Sie verheißen Glück und Freiheit. Der verfügbare Zeitrahmen bleibt aber derselbe.

Schauen wir auf die Gesellschaften bis zum Aufkommen der Moderne vor 200 bis 250 Jahren: Die Menschen kamen abends nach schwerer Arbeit vom Feld, hatten dann nichts mehr zu tun. Heute besteht der permanente Versuch, seine Reichweite zu vergrößern. Nach der Arbeit sind noch zahllose Dinge zu erledigen, Familie, Hobbies, der Film im Fernsehen, Sport, Kultur, Kurse und zahlloses mehr. So kommt es zu Desynchronisation und Entfremdung.

Weil nicht alle folgen können?

Hartmut Rosa: Desynchronisation und Entfremdung sind dann in der Tat die Folge. Nicht alles lässt sich gleichermaßen synchronisieren. Wer oder was zu langsam ist, wird abgehängt, ist auf dem absteigenden Ast.

Dies hat drastische Auswirkungen. Die Öko-Krise beispielsweise ist eine Desynchronisations-Krise. Die sozio-technischen Geschwindigkeiten sind zu groß geworden für die Eigenzeiten der Natur. Wenn wir Bäume abholzen, dann ist das noch nicht so gravierend, das macht der Biber ja auch. Wenn aber der Regenwald nicht mehr nachwächst, dann haben wir ein echtes Problem. Wenn wir die Ozeane leer fischen, haben wir auch ein Problem.

Die derzeitige politische Krise lässt sich nach meiner Meinung sehr gut verstehen als Desynchronisation. Auch die Demokratie als Element zur Gestaltbarkeit ist zu langsam, weil die Suche nach gesellschaftlichem Konsens und das Austarieren von Interessen, das Verstehen von anderen Positionen Zeit braucht. Dies wird eigentlich immer wichtiger, wenn die Gesellschaft pluralistischer und dynamischer wird. Wenn die Dinge komplexer werden.

Die ökonomischen und die medialen Geschwindigkeiten nehmen aber unablässig zu. Algorithmen entscheiden inzwischen in Sekundenbruchteilen über die Kapital- und Finanzströme, über Renditen oder Verluste. Die Produktion und die Konsumtion lassen sich aber nicht beliebig beschleunigen.

Schließlich sind auch Menschen zu langsam, was eine Psychokrise zur Folge hat. Der permanente Zwang zur Steigerung und zur Neuerfindung führt zu einer psychischen Überforderung. Dies wiederum birgt die Gefahr der Entfremdung. Die Idee der Moderne, mehr Welt in Reichweite zu bringen, mehr Welt verstehbar zu machen, geht einher mit einem progressiven Weltverlust. Als würde die Welt zurückweichen, sie schweigt. Sie steht uns als etwas Stummes und Kaltes und Feindliches gegenüber. Praktisches Beispiel: Wir beschallen uns permanent und zunehmend mit Musik, immer mehr Menschen tragen Kopfhörer in der Straßenbahn. Sie erwarten nicht mehr, mit den anderen Fahrgästen oder der Natur um sie herum in irgendeinen intensiven oder bedeutungsvollen Austausch zu treten. Wer nicht mithalten kann zum Beispiel bei der Körperoptimierung durch Fitness und Sport oder bei der Wissensaneignung im Allgemeinen, wer also dem Zwang zur Steigerung seiner selbst nicht genügt, kommt nicht mehr mit.

Also ersetzen Sie Beschleunigung durch Verlangsamung?

Hartmut Rosa: Nein. Das ist keine Lösung in einem System der dynamischen Stabilisierung. Ich kann jetzt nicht einfach sagen, lass uns langsamer machen. Eine langsame Achterbahn stürzt ab, ein langsamer Notarzt ist tödlich, ein langsames Internet ist nervig.

Es geht um eine andere Art des In-Beziehung-Tretens der Menschen und Kollektive zur Welt. Es geht um eine adaptive Stabilisierung. Das heißt, eine Gesellschaft muss in der Lage sein, zu wachsen, zu beschleunigen und zu innovieren, um den Staus quo zu ändern. Sie soll aber nicht zur Steigerung gezwungen werden, um ihren Staus quo zu erhalten. Also heißt das, mehr Brot zu produzieren, wenn es in einer Region an Nahrungsmitteln mangelt. Wenn ein neuer Virus auftritt, dann brauchen wir beschleunigt eine Innovation, um dieses Problem zu lösen. So haben Kulturen immer funktioniert. Das nenne ich adaptive Stabilisierung. Aber wenn ich am Anfang des Jahres sage, wir müssen so- und soviel Wirtschaftswachstum haben, obwohl wir schon von Autos und anderen Gütern im Überfluss haben, ist das meiner Meinung nach ein durch und durch perverser Zustand.

Ganz praktisch geht es dabei um eine ökonomische Transformation in Richtung Wirtschaftsdemokratie, die Verstaatlichung von Finanzmärkten. Bedingungsloses Grundeinkommen und globale Erbschaftssteuer wären eine sozialstaatliche Transformation hin zur Abkehr von der erzwungenen Steigerung. Schließlich bedarf es einer kulturellen Transformation. Wir brauchen einen anderen Maßstab von Lebensqualität.

Dafür haben Sie den Begriff der Resonanz geprägt, was ist damit gemeint?

Hartmut Rosa: Es geht um Resonanz statt Reichweite. Wir sollten nach meiner Meinung auf eine andere Weise mit der Welt in Beziehung treten. Durch Affizierung – also das Einwirken – und Emotion, durch intrinsisches, von innen kommendes Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung entsteht eine neue Form der Weltbeziehung, in der sich Mensch und Welt gegenseitig zu berühren und damit zu transformieren scheinen. Resonanz bedeutet, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen und sich jeweils vom anderen erreichen lassen. Es ist die Beziehung des Hörens und Antwortens. Auf Menschen, die Natur, ein Buch, ein Musikstück, eine Tätigkeit.

Wo erfährt man Resonanz, findet die entsprechenden Räume?

Hartmut Rosa: Die Verheißungen der Religion, die Stimme der Kunst, der Mantel der Geschichte und vor allem die Stimme der Natur sind Sphären der Resonanz. Wer in den Wald, ans Meer oder auf die Berge geht, erfährt Resonanz. Der ist von der Natur berührt, inspiriert, öffnet sich. Er erfährt Antworten, lässt sich von etwas ansprechen. Auch die Wissenschaft, das Forschen, kann Resonanz erzeugen.

Aber klar ist auch: Sie können nie garantieren, dass sich Resonanz ereignet. Sie können Ihre Lieblingsmusik hören und trotzdem an einem bestimmten Tag keine Resonanz erfahren. Deshalb lässt sich Resonanz auch nicht steigern, vermehren, akkumulieren. Ein Lied, das sie sehr mögen und jeden Tag um 17 Uhr spielen, wird ihnen irgendwann nichts mehr sagen.

Beschleunigung bedeutet auch, schneller zu konsumieren. Wäre die Umkehr demnach auch gut für die Umwelt und unsere natürlichen Ressourcen?

Hartmut Rosa: Ganz sicher. Der Umgang mit Ressourcen würde nicht mehr der zwanghaften dynamischen Stabilisierung folgen.

Das Interview führte Steffen Reichert

Prof. Dr. Hartmut Rosa

Prof. Dr. Hartmut Rosa, 1965 in Lörrach geboren, ist Soziologe und Politikwissenschaftler, lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und steht dem Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt als Direktor vor.
Rosa studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Freiburg und London. 2004 habilitierte er sich mit einer Arbeit zur sozialen Beschleunigung. Wichtigste Themen Rosas sind das Phänomen der Beschleunigung, die Veränderung von Zeitstrukturen, gesellschaftliche Transformationsprozesse und mögliche Auswege aus der Beschleunigung der Lebenswelt.