Essay

UmweltPerspektiven 12/2021

Fließgewässer neu denken

Prof. Markus Weitere, UFZ. Foto:Sebastian Wiedling/UFZ

Prof. Dr. Markus Weitere
Leiter des Departments Fließgewässerökologie

Der Ökologe leitet das Department Fließgewässerökologie am UFZ-Standort in Magdeburg. Er ist Inhaber der Professur für Angewandte Fließgewässerökologie an der TU Dresden und und ein Sprecher der Integrierten Plattform „Süßwasserressourcen“ im Helmholtz-Programm „Terrestrische Umwelt“.

Die Schwerpunkte seiner Forschung sind die Steuerung von Stoffumsätzen in Fließgewässern, die experimentelle Analyse ökologischer Wirkzusammenhänge und die prozessorientierte Biofilmforschung. Er ist im Präsident der Deutschen Gesellschaft für Limnologie (DGL), welche die Erforschung und den Schutz der Binnengewässer unterstützt und dafür Fachleute aus Wissenschaft und Anwendung zusammenbringt.

Gemessen an den Süßwassermengen im globalen Kreislauf erscheinen Fließgewässer unbedeutend. Sie machen weniger als 0,1 Promille des weltweiten Vorkommens aus. Und auch die Aufenthaltszeit des Wassers ist verschwindend gering: Es rauscht gewissermaßen in durchschnittlich zwei Wochen von der Quelle bis zum Meer. In Seen bleibt das Wasser im Schnitt zehn Jahre, im Grundwasser viele Tausend Jahre. Schauen wir uns aber die Bedeutung der Fließgewässer an – für uns Menschen, für den Erhalt der globalen Biodiversität, für das Funktionieren eines gesunden Wasser- und Stoffkreislaufs – dann sieht das Bild komplett anders aus. Aus dem Unbedeutenden wird etwas Unersetzbares, etwas Überlebenswichtiges.

Um die Bedeutung der Fließgewässer für den Menschen zu erahnen, reicht ein Blick auf die Landkarte. Welche Stadt liegt eigentlich nicht an einem Fluss? Die Gewässer gehören dazu, sind Teil der kulturellen Identität. Und das hat auch handfeste Gründe: Sie stellen Trink- und Brauchwasser bereit, sie sorgen für den Abtransport von Schmutzwasser, den Transport von Gütern, die Ernährungssicherheit über Fischfang und fruchtbares Land. Klar, die Prioritäten haben sich bis heute verschoben. Aber auch heute sind Fließgewässer essenzieller Teil unserer Wasserversorgung, indem ihr Wasser direkt als Oberflächenwasser oder indirekt nach Versickerung als Grundwasser genutzt wird. Und nur eine hohe Wasserqualität aus gesunden Ökosystemen garantiert das auch zukünftig. Richtig ist daher, dass das Wiederherstellen und Managen des naturnahen Wasserhaushaltes sowie das Weiterentwickeln einer nachhaltigen Gewässerbewirtschaftung im Fokus der jüngst vorgestellten nationalen Wasserstrategie stehen. Hier hat man erkannt, dass Ökosystemgesundheit und menschliche Sicherheit untrennbar zusammengehören.

Für den Erhalt der Biodiversität sind Fließgewässer echte Hotspots. Viele Arten kommen nur hier vor. Sie brauchen spezielle Bedingungen, geprägt durch die Strömung, sauberes Wasser und eine hohe Dynamik. Verschwinden diese Besonderheiten – etwa durch Regulierung, Verbau oder Verschmutzung – geht auch die Artenvielfalt zurück. Hier zeigt sich einmal mehr: Die Vielfalt des Lebens kann nur geschützt werden, wenn wir auch die Vielfalt der Lebensräume erhalten.

Für den globalen Wasser- und Stoffkreislauf zwischen unseren Kontinenten und den Weltmeeren sind Fließgewässer das notwendige Bindeglied. Damit landet aber nicht nur das Wasser im Meer, sondern Flüsse transportieren auch Nährstoffe, Chemikalien und Plastikabfälle. Und nicht nur das: Viele der Stoffe werden in Bächen und Flüssen zurückgehalten und abgelagert, umgewandelt oder abgebaut. Meeresschutz fängt also nicht am Außendeich hinter Hamburg an. Er beginnt im Harz und in den Elbauen – überall dort, wo Bäche und Flüsse ausreichend intakt sind und ihre Reinigungsfunktion erfüllen.

Wie sieht es also mit dem Schutz dieser wichtigen Gewässer aus? Leider nicht gut. Weltweit ist die Biodiversität in Fließgewässern ebenso wie in Seen stark gefährdet – deutlich stärker als im Meer oder an Land. Die Inventur der EU-Wasserrahmenrichtlinie offenbart, dass unsere nationalen Fließgewässer meist in einem mäßigen, unbefriedigenden oder sogar schlechten Zustand sind. Das Ziel, alle Oberflächengewässer mindestens in einen guten Zustand zu bringen, scheitert trotz teils aufwendiger Maßnahmen krachend. Aktuell erreichen nur knapp 8 Prozent der Fließgewässer dieses Ziel, und es ist kein positiver Trend in Sicht. Immerhin: Der sehr schlechte Zustand vieler Gewässer in den 1970er und 80er Jahren wurde durch mehr Abwasserreinigung und Vorsorge verbessert. Und auch die jüngsten Maßnahmen im Zuge der Wasserrahmenrichtlinie waren alles andere als umsonst. Sie haben die Gewässer in eine bessere Ausgangslage gebracht. Aber es reicht eben aktuell maximal für Mittelmäßigkeit – das ist zu wenig für den nachhaltigen Schutz der Biodiversität, zu wenig für den Erhalt der so wichtigen Ökosystemleistungen und zu wenig, um die Gewässer fit für den Klimawandel zu machen.


In der Priorisierung werden Fließgewässer noch zu oft als nachrangig behandelt; ihre enorme Bedeutung ist noch nicht überall angekommen.

Was muss sich also ändern, damit sich die Dinge zum Positiven wenden? Zum Beispiel muss die Umsetzung von Ertüchtigungsmaßnahmen ambitionierter, beherzter und konsequenter werden. Aus wissenschaftlicher Sicht nötige Vorhaben weichen im Dickicht der knappen Ressourcen, Kompromisse und bürokratischen Zwänge zu oft dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Oder sie werden schlicht nicht konsequent genug verfolgt. So werden Renaturierungsmaßnahmen wie etwa das Einbringen von natürlichem Totholz in Flüsse aufgrund von Sicherheitsbedenken auf ein kaum wirksames Minimalprogramm reduziert. Oder die Etablierung von Uferrandstreifen, der wichtigen Pufferzone zum Fließgewässer, weicht der Konkurrenz um die Fläche. In der Priorisierung werden Fließgewässer noch zu oft als nachrangig betrachtet; ihre enorme Bedeutung ist noch nicht überall in den Vollzugsketten angekommen.

Eine ambitioniertere Umsetzung alleine reicht aber nicht. Um aus der Sackgasse herauszukommen, müssen wir Fließgewässer und deren Schutz neu denken. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am UFZ tun das, indem sie sich zum Beispiel von einem zu starken lokalen Fokus lösen. Denn vieles, was die ökologische Qualität eines Fließgewässers bestimmt, hat seinen Grund an anderer Stelle – etwa im Oberlauf oder an Land. Im Fokus steht daher der gesamte Wasserkreislauf in den Einzugsgebieten der Flüsse. Der Einsatz neuer mathematischer Modelle und moderner Technik in der Umweltüberwachung macht das möglich.

Effizienter und effektiver Gewässerschutz setzen aber auch voraus, dass wir alle wichtigen Stressoren und deren Wirkweisen im Ökosystem hinreichend kennen. Was nach einer Selbstverständlichkeit klingt, ist leider noch nicht überall realisiert. Dass Pestizide etwa auf die elementaren ökologischen Prozesse im Fließgewässer negativ wirken und die Biodiversität gefährden, ist bekannt. Aber über welche Pfade und in welchen Konzentrationen erreichen Pestizide die Gewässer? Ab wann wird es kritisch für die Ökosysteme? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten, unter anderem, da die Einträge sehr dynamisch sind und oft durch das Raster der Routineüberwachung fallen. Forschende am UFZ haben sich des Problems angenommen und erstmalig eine deutschlandweite Inventur der Pestizidbelastung in Bächen vorgenommen. Hochaufgelöste Daten, modernste Techniken in der Analyse und Folgenbewertung zeigen ein bisher zu oft unterschätztes Risiko auf. Lesen Sie mehr dazu auf den folgenden Seiten dieser Ausgabe der UmweltPerspektiven!

Zum Titelthema der Umweltperspektiven12/2021:
Pestizide belasten kleine Gewässer