Essay
UmweltPerspektiven 05/2019
Nachhaltige Chemie: Lebensqualität und Sicherheit für Mensch und Umwelt
Prof. Dr. Rolf Altenburger
Leiter des Themenbereichs Chemikalien in der Umwelt sowie des Departments Bioanalytische Ökotoxikologie
Darüber hinaus ist Rolf Altenburger Sprecher für das Topic "One Healthy Planet - Developing an Exposome Approach to Integrate Human and Envrionmental Hazard Assessment" innerhalb des Helmholtz-Forschungsprogramms "Changing Earth – Sustaining our Future". Im Fokus seiner Forschung stehen die Analyse der Wirkweise von Umweltchemikalien, die Vorhersagbarkeit und Beurteilung von Kombinationswirkungen von Stoffmischungen sowie die Etablierung von bio-analytischen Messverfahren.
Er wurde vom Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft in den wissenschaftlichen Beirat „Nationaler Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“ berufen.
Menschen bestimmen heutzutage in hohem Maße die Bedingungen, unter denen sie miteinander und mit ihrer Umwelt leben. Diese Gestaltungsmacht war und ist nicht zuletzt mit dem Einsatz von Chemikalien verbunden. Er ermöglichte zu einem großen Teil die Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft, verbesserte die Ernährungssicherheit, revolutionierte den lebensverlängernden Umgang mit Krankheiten und ermöglichte so enormes Bevölkerungswachstum. Folgt man den Argumenten des US-amerikanischen Psychologen Steven Pinkers zur Entwicklung gesellschaftlicher Organisationsformen, hat die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten weltweit auch die Gewalt zwischen Menschen und nach Analysen der Weltbank extreme Armut substanziell reduziert.
Seit dem Bericht des Club of Rome von 1972 debattieren wir über planetare Grenzen, also Schwellenwerte, die nicht über- oder unterschritten werden dürfen.
Gleichzeitig nahm die Eingriffstiefe menschlichen Handelns auf der globalen Skala zu. Seit dem Bericht des Club of Rome von 1972 debattieren wir über planetare Grenzen, also Schwellenwerte, die nicht über- oder unterschritten werden dürfen, um die nachhaltige menschliche Nutzung des Systems Erde nicht zu gefährden. Die globale Dimension menschlichen Handelns wird heute schneller als vormals erreicht, sei es durch die schiere Anzahl an Menschen etwa mit Blick auf ihre individuellen Mobilitätsbedürfnisse oder durch die Dimension von technologischen Gefährdungspotenzialen zum Beispiel in der Energie- oder Biowirtschaft.
Um Risiken zu beurteilen, reagieren moderne Gesellschaften mit immer differenzierteren Expertensystemen. Zunächst waren es vorrangig Katastrophen, die zu wissenschaftsgestützter Risikobetrachtung und Handlungsvorschlägen führten – Chemieunfälle wie die im indischen Bhopal oder im italienischen Seveso, bei denen zahlreiche Menschen Schaden nahmen, Brände und Öltankerunglücke mit verheerenden Auswirkungen auf die Natur oder Arzneimittelskandale, die wie im Fall von Contergan zu massiven gesundheitlichen Schäden bei vielen tausend Kindern führten. Mittlerweile geht die öffentliche Erwartung dahin, dass Wissenschaft schon vor der Einführung und Vermarktung von neuen Stoffen, Produkten, Technologien oder Prozessen deren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt präzise prognostisch abschätzen muss.
Die Öffentlichkeit erwartet, dass Wissenschaft Auswirkungen auf Mensch und Umwelt prognostisch abschätzt.
Alltagserfahrungen mit Prognosen haben wir beim Wetter: Wir orientieren uns beinahe täglich daran und wissen gleichzeitig, dass sie unpräzise oder falsch sein können. Innerhalb der Wissenschaft wird daher über Prognoseverfahren gerne gestritten. Wenn, wie kürzlich geschehen, eine Gruppe von Lungenärzten die Gültigkeit eines Grenzwertes für einen Luftschadstoff öffentlich bezweifelt, zeigt dies das Dilemma der aktuellen Debatten zur Chemikaliensicherheit. Heute kann die Legitimität von spezialisiertem Expertenwissen durch ‚alternative‘ Experten jederzeit infrage gestellt werden.
Die Transparenz der Debatte ist lobenswert, denn nur so konnten die Rechenfehler der Lungenärzte ans Tageslicht kommen. Ob ein Kind, das sich an einer vielbefahrenen Straße bewegt, nun 30 Tage oder eher 30 Jahre regelmäßig Zigaretten rauchen müsste, um einem vergleichbaren Gesundheitsrisiko ausgesetzt zu sein, ist jedoch eine Gespensterdebatte. Weder sollte ein selbst gewähltes Risiko mit einem zugemuteten Risiko ohne Not verglichen werden („Stellen Sie sich nicht so an, schließlich gehen Sie doch größere Risiken ein, wenn Sie Ski oder Fahrrad fahren“), noch lebt ein Kind an einer vielbefahrenen Straße ausgestattet mit Feinstaub- und Ozonfilter. Belastungen treten aber, anders als in dieser Debatte unterstellt, weder isoliert gegenüber einzelnen Chemikalien auf, noch will die Allgemeinheit es hinnehmen, dass Schäden an Menschen erst nachweisbar auftreten müssen, bevor gehandelt wird.
Diese und ähnliche Debatten über einzelne Chemikalien, egal ob sie Glyphosat, Fipronil oder Stickoxid heißen, greifen also typischerweise zu kurz. Und hierin liegen echte Herausforderungen für Wissenschaft und rationales Handeln. Eine Prognose von unerwünschten Auswirkungen erfolgt heute überwiegend sektoral. Wir bewerten also die schädlichen Potenziale eines neuen Pflanzenschutzmittels, Kosmetikums oder einer Wandfarbe isoliert. Die Informationen hierfür zu beschaffen ist mehr oder weniger aufwendig, aber, eben solange sie vorsorgend orientiert sind, immer losgelöst von realen Menschen oder spezifischen Umwelten. Auch die Dimensionen eines möglichen Gebrauchs sind, da in der Zukunft liegend, weitgehend unbekannt. Demgegenüber wissen wir aus vielen Beobachtungen, dass Schutzziele wie die Erhaltung der menschlichen Gesundheit oder der biologischen Vielfalt jeweils ganz unterschiedlichen und zeitlich stark veränderlichen Gemischen von Stoffen und weiteren Stressoren ausgesetzt sind.
In den Gesundheits- und Umweltwissenschaften wird für diese Sachlage der Begriff ‚Exposom‘ verwendet. Das Exposom soll die Gesamtheit aller Umwelteinflüsse, denen Individuen über ihre Lebenszeit ausgesetzt sind, in den Blick nehmen und deren Bedeutung für das Krankheitsgeschehen zum Gegenstand machen. Der Begriff lehnt sich an das Wort Genom an, da die umfassende Analyse der genetischen Ursachen von Erkrankungen lange im Mittelpunkt naturwissenschaftlicher Forschung stand. Doch stellte es sich heraus, dass genetische Prädispositionen nur zu einem kleineren Anteil Erkrankungen zu erklären vermögen. Der weitaus größere Teil gilt mittlerweile als umweltbedingt und damit prinzipiell vermeidbar.Die Untersuchung des Exposoms ist ein vielversprechender neuer Ansatz in der Umwelt- und Gesundheitsforschung. Er berücksichtigt viele Dinge gleichzeitig: Erstens diverse Einflussfaktoren, die zu einer Krankheit beitragen können; zweitens Ereignisse des Ausgesetztseins gegenüber schädlichen Einflüssen (Exposition) über lange Zeiträume und drittens die Vorstellung, dass Beobachtungen in Populationen mit dem Wissen über das Umweltverhalten von Chemikalien kausal verknüpft werden sollen.
Unser Ziel ist es, die Vielfalt der Chemikalien, denen Umwelt und Menschen ausgesetzt sind, systematisch zu erfassen und vorausschauend zu beurteilen.
Am UFZ wollen wir in den kommenden Jahren das Thema Gesundheit und das Universum der Chemikalien noch stärker in den Blick nehmen. Unser Ziel ist es, die Vielfalt der Chemikalien, denen Umwelt und Menschen ausgesetzt sind, systematisch zu erfassen und vorausschauend zu beurteilen. Um ihre Wirkung zu erforschen, werden wir uns vor allem auf Kinder konzentrieren, die in bestimmten Zeitfenstern besonders sensibel auf Umweltfaktoren reagieren. Diese Vorhaben sind ambitioniert und weder kurzfristig noch ohne die Vernetzung mit Partnern umzusetzen. Bei Erfolg versprechen sie jedoch wichtige Erkenntnisse für die dringend gebotene Weiterentwicklung der Chemikalienbewertung. Damit erarbeiten wir moderne Optionen für ein wissensbasiertes Management von veränderlichen, komplexen Belastungen von Menschen und Umwelt. Mit anderen Worten: Wir schaffen Grundlagen für eine nachhaltige Chemie, die Lebensqualität und Sicherheit vereinbart.
Zum Titelthema der Umweltperspektiven 05/2019:
Nachhaltige Chemie: Lebensqualität und Sicherheit für Mensch und Umwelt