Essay

UmweltPerspektiven 7/2020

Warum die Ökosysteme der Zukunft multifunktional sein müssen

Stefan Klotz

Dr. Stefan Klotz
Leiter des Themenbereichs „Ökosysteme der Zukunft“ sowie des Departments „Biozönoseforschung“

Der Ökologe leitet den UFZ-Themenbereich Ökosysteme der Zukunft sowie das Department „Biozönoseforschung“ am UFZ-Standort in Halle. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Pflanzenökologie, Biologische Invasionen und Biogeographie. Besonders interessieren ihn die Wirkungen der Landnutzung und des Klimawandels auf die Biodiversität generell und speziell auf die Dynamik der Ökosysteme.

Er ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften, Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft für Ökologie Deutschlands, Österreichs und der Schweiz (GFÖ) sowie Generalsekretär der Europäischen Ökologischen Föderation (EEF), des Zusammenschlusses ökologischer Fachgesellschaften in Europa. Als Mitglied des Deutschen Zentrums für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig fördert er Kooperationen zwischen verschiedenen Forschungsbereichen. Er hat entscheidend zur Konzeption und Umsetzung der Global Change Experimental Facility (GCEF), einem Langzeitexperiment zum Klima- und Landnutzungswandel beigetragen. Er ist Mitglied des Editorial Boards von Web Ecology und mehrerer anderer wissenschaftlicher Beiräte.

Die Ende Mai 2020 von der EU-Kommission veröffentliche Strategie zum Schutz der Biodiversität bis 2030 trägt den Untertitel „Bringing nature back into our lives”. Die Frage, wie es gelingen kann, die Natur wieder in unser Leben zu integrieren, ist von grundlegender strategischer Bedeutung für das Überleben der Menschheit und keineswegs neu. Die bislang dominierende Strategie bestand darin, immer mehr Ressourcen der Natur zu nutzen, um unser Leben zu verbessern. Heute sehen wir, wie dieser auf Wachstum orientierte Ansatz zu seinem Ende kommt. Wir übernutzen die meisten, auch die erneuerbaren Ressourcen und haben keine Steigerungsmöglichkeiten mehr.


Dennoch ist der Zeitgeist immer noch vom Wachstumsparadigma geprägt und von der Idee, man könne diesen Pfad weiter beschreiten, indem man entsprechende Technologien entwickelt oder sogar Ressourcen aus den Weiten des Weltraums nutzt. Dieses Paradigma steht im völligen Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Kein Ökosystem – und die Erde ist ein solches System – kann ständig seine Primärproduktion steigern. Auch die Annahme vieler Ökonomen, dass Ressourcen durch andere ersetzbar seien, übersieht die schlichte Tatsache, dass wir Menschen als biologische Wesen von Sauerstoff, Wasser, Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen sowie anderen Elementen abhängen. Deshalb gibt es ganz objektive Grenzen des Wachstums – eine Erkenntnis, die der Club of Rome schon 1972 formulierte und die heute aktueller denn je ist. Die Idee, man müsse für unser Überleben nur für saubere Luft, sauberes Wasser und fruchtbare Böden sorgen, übersieht, dass hierzu die Vielfalt des Lebens, die Biodiversität der Erde, benötigt wird. Nur sie kann das Funktionieren der Ökosysteme sichern, ihre Produktivität erhalten oder auch für das Recycling von Stoffen sorgen.


Kein Ökosystem - und die Erde ist ein solches System - kann ständig seine Primärproduktion steigern.

Seit Jahrzehnten herrscht die Idee vor, Ökosystem- bzw. Landschaftsfunktionen, also die Nutzung und den Schutz der Landschaft, räumlich strikt zu trennen. So betreiben wir auf der einen Seite intensive Land- und Forstwirtschaft, die auf maximale Produktion fokussiert ist oder entwickeln urbane Räume mit hohen Verdichtungsgraden. Auf der anderen Seite weisen wir Gebiete aus, die wenig oder nicht genutzt werden dürfen, um Tiere und Pflanzen zu schützen. Selbst einige Vertreter des Naturschutzes plädieren für diese Trennung. Ich halte sie für falsch, denn sie führt zu zahlreichen Problemen: Die Wasserqualität von Grund- und Oberflächengewässern verschlechtert sich, die Erosion durch Wasser und Wind und die Wüstenbildung nehmen zu und die Biodiversität sowie deren direkte Leistungen, zu denen die Bestäubung wichtiger Wild- und Nutzpflanzen und die Kontrolle von Schaderregern zählen, nehmen drastisch ab. Durch den Menschen gesetzte Selektionsbedingungen (Pestizide, generelle Umweltveränderungen etc.) sorgen für neue Evolutionsprozesse, die zu neuen Resistenzen und zur Auslese neuer Genotypen von Wildpflanzen- oder Wildtierpopulationen führen können.


Und nicht zuletzt begünstigt die immer stärkere Einengung natürlicher Systeme auch, dass Pandemien entstehen und sich ausbreiten, so wie wir es derzeit mit Covid19 erleben. Die Konsequenz ist: Wir müssen die Natur in unser Leben und Wirtschaften zurück bringen sowie die Multifunktionalität unserer Ökosysteme und Landschaften verbessern.


Was kann die Wissenschaft dazu beitragen? Der entscheidende Ansatz liegt hier zuerst im Verstehen der Vielfalt des Lebens und von ihr in Gang gesetzter, natürlicher ökosystemarer Prozesse. Wir müssen weit besser begreifen, wie Organismen, egal ob Mikroben, Pflanzen, Insekten oder große Säugetiere, miteinander interagieren und all die auch für uns essenziellen Leistungen erbringen. Daran schließen sich Fragen der Anpassungsfähigkeit von Ökosystemen an den globalen Wandel an – sowohl von künstlichen Systemen wie Agrar- oder Forstsystemen als auch von noch existierenden natürlichen Systemen, wie großen borealen Nadelwäldern, Regenwäldern und Savannenökosystemen. Und schließlich ist es Aufgabe der Wissenschaft, sich mit Nutzungs- und Managementoptionen auseinanderzusetzen – von der Planung diverser Landschaftsstrukturen über neue Nutzungssysteme, zum Beispiel ökologische Landwirtschaft, Agrar-Forst-Systeme, klimastabile diverse Nutzwälder oder Naturschutzkonzepte für Nutzökosysteme und Kulturlandschaften insgesamt.


Am UFZ befindet sich auch das flächenmäßig weltweit größte Experiment zum Einfluss der Landnutzung und des Klimawandels auf Agrarökosysteme.

Auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Themenbereichs „Ökosysteme der Zukunft“ am UFZ haben sich dieser Aufgabe verschrieben. Sie befassen sich mit dem Monitoring essenzieller Biodiversitätsgrößen, Bodenmerkmalen und Landschaftsvariablen, zunehmend auch mit neuen Methoden der Fernerkundung. Sie nutzen moderne Laborexperimente, aber auch künstliche Modellökosysteme und Freilandexperimente, wie die in der Versuchsstation Bad Lauchstädt. Mehr als 20 wissenschaftliche Experimente unterschiedlichster Größe und Dimension laufen hier derzeit. Darunter ist das flächenmäßig weltweit größte kombinierte Experiment zum Einfluss der Landnutzung und des Klimawandels auf Agrarökosysteme, die Global Change Experimental Facility (GCEF).


Die vorliegende Ausgabe der UmweltPerspektiven bietet einen Einblick in diese Vielfalt und in die 125-jährige Geschichte dieser Forschungsstation, die international immer bedeutender wird. Unter anderem soll sie zu einem der circa 250 Standorte einer europäischen Infrastruktur zur Langzeitforschung an Ökosystemen (eLTER RI) entwickelt werden, deren Aufbau hier am UFZ koordiniert wird.


Doch wir sind mehr als nur Teil der weltweiten wissenschaftlichen Community. Da der Mensch sowohl Verursacher der aktuellen Probleme als auch potenziell Teil der Lösung ist, erachten wir es als wichtig, Forschungsergebnisse in die Politik und die Gesellschaft zu kommunizieren. Die Mitarbeit unserer Wissenschaftler im Weltklimarat IPCC, im Weltbiodiversitätsrat IPBES, im Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) und zahlreichen anderen internationalen und nationalen Gremien demonstriert das eindrucksvoll. „Bringing nature back into our lives“ ist keine neue Variante einer „Zurück zur Natur“-Bewegung. Lernen von der Natur, Arbeiten mit der Natur und nicht entgegen natürlicher Prozesse, naturgemäße Nutzungskonzepte und Technologien und natürlich Änderungen in unserem Lebensstil und unseren Wertesystemen sind Lösungsansätze, die uns eine Zukunft ermöglichen. Mehr produzieren und mehr konsumieren, um mehr Kapital zu akkumulieren, führt uns dagegen weiter in die Sackgasse!

Zum Titelthema der Umweltperspektiven 7/2020:
Experimentelle Ökosystemforschung trifft globalen Wandel