Anklamer Stadtbruch (Solvin Zankl, Rewilding Europe)

Hintergrund

Den Biodiversitätsverlust aufzuhalten, stellt auf globaler, europäischer und deutscher Ebene eine zentrale Herausforderung dar. In diesem Kontext ist Rewilding in den vergangenen Jahren als partizipative und prozessorientierte Methode des Biodiversitäts- und Naturschutzes zunehmend ins Rampenlicht gerückt. Ursprünglich in Nordamerika entwickelt, findet das Konzept heute auch in Europa und in Deutschland Anwendung. In Europa sind zehn Gebiete durch die Organisation Rewilding Europe als Modellgebiete ausgewählt worden, eines davon im deutsch-polnischen Grenzgebiet an der Odermündung, das Modellgebiet Oder Delta.

Das REWILD_DE Forschungsprojekt bezieht sich auf auf den deutschen Teil des Modellgebiets Oder Delta, das grob die Region westlich des Stettiner Haffs zwischen Pasewalk, Ueckermüde und Anklam bis zur Ostseeküste markiert. Das Gebiet umfasst auch den Naturpark Flusslandschaft Peenetal von Jarmen bis Anklam und große Teile der Insel Usedom, jedoch ohne den Ostseeküstenstreifen.

Was ist Rewilding?

Rewilding kann man als „Förderung von Wildheit“ bezeichnen. Es zielt darauf ab, durch die Verringerung menschlicher Eingriffe natürliche Prozesse in Ökosystemen wiederzuzulassen und in Zusammenarbeit mit Gemeinden und Einwohner:innen natürliche Landschaften zu fördern. Dabei ist eine menschliche Nutzung nicht ausgeschlossen, vielmehr werden eine naturnähere Bewirtschaftung und ökonomische Vorteile, z.B. durch naturverträgliche Land- und Forstwirtschaft oder sanften Ökotourismus angestrebt.

Durch Rewilding wird

  • die Biodiversität gefördert,
  • die Anpassungsfähigkeit und Resilienz der Ökosysteme z.B. angesichts der Klimaveränderungen gestärkt,
  • eine nachhaltige Nutzung der Natur durch den Menschen (in Form von sogenannten „Ökosystemleistungen“) sowie eine nachhaltige regionale Entwicklung und Revitalisierung ländlicher Gebiete dauerhaft möglich.

Rewilding bezieht sich auf die Verbesserung des Zustandes von Ökosystemen im Sinne ihrer Naturnähe. Damit ist es nicht nur auf Flächen und Gebiete beschränkt, die bereits sehr artenreich sind, wie z.B. Schutzgebiete. Rewilding Gebiete in Europa bestehen größtenteils aus einem Mosaik von Flächen, die unterschiedlich naturnah sind, die Kulturlandschaft mit einbeziehen und unterschiedlich genutzt werden.

  • Rewilding ist ein prozessorientierter Restaurations-Ansatz im Natur- und Biodiversitätsschutz.
  • Im Unterschied zum erhaltenden Naturschutz ist die Wiederherstellung eines historischen Zustands oder die Erhaltung eines spezifischen Schutzgutes kein zentrales Ziel von Rewilding. Managementziel ist vielmehr die (Wieder-)Herstellung der drei ökologischen Prozesse (i) Verbreitungspotential, d.h. Wanderungsmöglichkeiten zwischen Populationen, (ii) stochastische Störungen und (iii) trophische Komplexität. In ihrem Zusammenspiel sollen sie die Resilienz und Naturnähe degradierter Ökosysteme fördern und – bei weitgehendem Verzicht auf aktives Management – erhalten.

(Perino et al. 2019)

  • Rewilding ist nicht durch rechtliche Vorgaben definiert, wie es bei klassischen Schutzgebieten der Fall ist, sondern beruht auf der freiwilligen Mitwirkung von Stakeholdern bzw. der Bevölkerung. Dies erfordert in besonderem Maße, dass eine dem Gebiet angepasste Rewilding-Strategie angewendet wird. Sie muss die lokal vorherrschenden Naturräume genauso berücksichtigen, wie die Nutzungen verschiedener Flächen und sonstigen gesellschaftlichen und sozio-kulturellen Gegebenheiten.
  • Besonders durch das Vorkommen von großen Wildtierarten in rewildeten Gebieten aber auch durch naturnahe Landschaften legt Rewilding eine Grundlage für die Förderung von Naturtourismus. Durch naturnähere Bewirtschaftung von Flächen kann auch die Land- und Forstwirtschaft in ihrer Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel gestärkt werden.
  • Rewilding findet in Mitteleuropa in kulturell geprägten Landschaften statt. Durch die notwendigen partizipativen Prozesse zur Mitwirkung der Menschen in der Region eröffnet ein Rewilding-Prozess zugleich die Chance, sozio-kulturellen Zugänge zu den betroffenen Landschaften einzubeziehen und zu stärken.

Beispiele für Rewilding-Maßnahmen

Die Wiederherstellung natürlicher Prozesse kann je nach Zustand, Größe und landschaftlichem Kontext, in dem sich ein Ökosystem befindet, ganz unterschiedliche Rewilding-Maßnahmen erfordern. Die folgenden Beispiele sollen die Bandbreite der möglichen Maßnahmen veranschaulichen.

Natürliche Überflutungsdynamik im Leipziger Auwald

Blühender Lerchensporn (Michael Wendt - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15504649) Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben Hochwasserschutz und Änderungen in der Waldbewirtschaftung die Baumartenzusammensetzung des Leipziger Auwalds verändert. Arten wie Bergahorn, Spitzahorn und Esche nahmen zu und verdrängten typische Auenarten wie Hainbuche und Eiche. In den 1990er-Jahren begannen Mitarbeitende der Stadt Leipzig mit einem Wiedervernässungsversuch, bei dem sie eine Versuchsfläche jährlich überfluteten. Das führte zu einem Zuwachs von typischen Auenarten wie Eiche und Hainbuche und einem Rückgang feuchteintoleranter Pflanzenarten, die nach der Trockenlegung dominant geworden waren (z.B. Berg- und Spitzahorn). Gleichzeitig konnte eine Wiederansiedlung von feuchteliebenden Schnecken und verschiedenen auwaldtypischen Laufkäferarten beobachtet werden.

Die Erkenntnisse dieses Langzeitexperiments fließen auch in die Umsetzung des “Lebendige Luppe” Projekts ein, bei dem verschiedene trockengelegte Arme der Luppe wiedervernässt werden sollen.

Die Umsetzungsphase wird von einer umfassenden Kommunikationsstrategie begleitet, die der Bevölkerung verschiedene Möglichkeiten bietet, mit dem Auwaldökosystem in Berührung zu kommen. Dazu gehören z.B. multimediales Lernmaterial für Umweltbildungsangebote und ausleihbare “Auwaldrucksäcke” mit Lupen, Käschern und Landkarten, mit denen Kinder die Flora und Fauna des Auwalds kennenlernen und in interaktiven Experimenten mehr über seine Ökologie und Topographie erfahren können. Ein lokaler Naturschutzverein organisiert Exkursionen und regelmäßige öffentliche Diskussionsveranstaltungen. Zwei Forschungsprojekte untersuchen die ökologischen Effekte der Maßnahme und bewerten die Akzeptanz und Wahrnehmung der natürlichen Auwaldprozesse.

Raum für natürliche Prozesse im Schweizer Nationalpark

Ofenpass (Adrian Michael - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=58852077) Der Schweizer Nationalpark ist der älteste Nationalpark in Europa und das größte Schutzgebiet der Schweiz. Bereits 1909 erkannten die Parkgründer:innen den naturschutzfachlichen Wert des Gebiets um den Fuornpass. Sie verhandelten einen Pachtvertrag mit den lokalen Gemeinden und gründeten die Schweizer Naturschutzstiftung, um die langfristige Finanzierung des Parks zu sichern.
Sozioökonomische Studien zeigen, dass der Park heute jährlich um die 150.000 Besucher anzieht und damit nachhaltig zur ökonomischen Entwicklung der Region beiträgt.

Um Raum zu schaffen für natürliche Prozesse, verfolgt der Park eine strenge Null-Interventionsstrategie; menschliche Aktivitäten wie Jagd, Land-oder Forstwirtschaft sind verboten. Einzige Ausnahmen sind gezielte Maßnahmen, um Konflikte mit den lokalen Gemeinden zu vermeiden. Dazu zählte in der Vergangenheit zum Beispiel die gelegentliche Jagd auf Rotwild in an den Park angrenzenden Gebieten.
Um die Komplexität der Nahrungsnetze zu steigern, wurden Steinböcke und Bartgeier wieder angesiedelt. Natürliche Störereignisse werden nicht beeinflusst und die Verbreitungsmöglichkeiten sind für die meisten Arten hoch. Die Null-Interventionsstrategie hat zu hohen Populationsdichten von Rothirschen, Steinböcken, Gämsen und Rehen geführt, die zum Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz sehr selten waren. Insbesondere die erhöhten Rothirschzahlen haben in den subalpinen Graslandbereichen zu größerer Pflanzenartenvielfalt geführt. In den letzten Jahren wurden große Beutegreifer wie Braunbär und Wolf häufiger gesichtet.