- Gastbeitrag Oktober 2022 -

Vom Klimaschutz lernen? Die Biodiversitätskrise im Kontext von Kipppunkten, Komplexität & Kommunikation

Ein Gastbeitrag von Christian Hof



Ein 1,5°-Ziel für die Biodiversität – das klingt nach einer charmanten Idee. Der Temperaturwert ist inzwischen in aller Munde in Politik, Medien und Gesellschaft und dient als Orientierungsmaßstab für allerhand Maßnahmen zum Klimaschutz. Doch taugt eine solche – wie auch immer zu definierende – Marke als Maß für den Zustand der biologischen Vielfalt, als Ziel zu ergreifender Handlungen, oder als Schwellenwert, bei dessen Überschreitung die Biosphäre in irreversible dramatische Situationen gerät? Welchen Zweck erfüllen bestimmte numerische Größen, und heiligt dieser Zweck die von der Wissenschaftscommunity so verabscheuten Mittel der Vereinfachung und Verkürzung?

Der Reihe nach. Zunächst sollten wir uns vergegenwärtigen, worüber wir sprechen, denn hier gerät gerne mal einiges durcheinander. So ist ein Grenzwert nicht zu verwechseln mit einem Kipppunkt: Grenzwerte sollten so definiert werden, dass wir gar nicht erst in die Nähe der Bereiche kommen, in denen die Umstände problematisch werden. Kipppunkte dagegen markieren die Schwellenwerte in einem System, bei deren Überschreitung sich das System irreversibel verändert. Oder zusammen: Grenzwerte sollten so definiert werden, dass Kipppunkte nicht erreicht werden. Und das Ziel könnte in diesem Kontext sein, immer schön unter dem Grenzwert zu bleiben.

Das 1,5°-Ziel mag diese etwas abstrakten Zusammenhänge veranschaulichen: Im einschlägigen Sonderbericht des IPCC ist recht eindrücklich dargestellt, dass (grob vereinfacht) das Verbleiben unter diesem Erwärmungslevel für die meisten Erdsystembereiche gerade noch so erträglich ist. Darüber hinaus aber könnte, insbesondere wenn wir an eine planetare Erhitzung von 2°C und mehr denken (und wir sind ja nun mal auf dem besten Wege dorthin), das eine oder andere Element im Klimasystem bereits ins Kippen geraten. Dabei ignoriert die Klima-Community mit dem Fokus auf einen Temperaturwert keineswegs die Komplexität des Klimasystems. Der Wert scheint vielmehr ein wissenschaftlich plausibler Indikator zu sein, der noch dazu gut zu kommunizieren ist. Denn weite Teile der Bevölkerung scheinen inzwischen begriffen zu haben, dass jedes Dezimalgrad mehr auf dem Weg dorthin mehr Dürreperioden, mehr Starkregen, mehr sterbende Bäume und mehr trockene Flüsse bedeutet. Oder zumindest höhere Wahrscheinlichkeiten von alldem, um mal nicht ganz so stark zu vereinfachen.
Regenwald auf der mexikanischen Yucatan-Halbinsel
Die Komplexität von Ökosystemen (hier der Regenwald auf der mexikanischen Yucatan-Halbinsel) hält viele Herausforderungen bereit – für die Forschung wie die Kommunikation. Bild: Christian Hof

Was spricht also nun dagegen, dass die Biodiversitätsgemeinde den Klima-Kolleg:innen folgt und ebenfalls eine Zahl als Ziel definiert? Nun, mindestens zwei Gründe kommen einem da spontan in den Sinn. Zum einen ist da die Sache mit der Komplexität. Lebende Kreaturen sind schwieriger zu verstehen und vorherzusagen als klimatische Phänomene (auch wenn deren Komplexität mitnichten negiert werden sollte). Und diese Verständnis- und Vorhersageschwierigkeiten nehmen in schier atemberaubendem Maße zu, wenn es um höchst komplizierte ökologische Gebilde wie Artengemeinschaften oder Ökosysteme geht, die ihrerseits aus einer Vielzahl lebendiger Organismen bestehen. Hinzu kommen, zum zweiten, gewaltige Wissenslücken selbst bei den fundamentalsten ökologischen Daten: Nur zwei von womöglich acht oder mehr Millionen Arten von Lebewesen, die die Welt bevölkern, sind bisher beschrieben. Ganz zu schweigen von der fehlenden Erfassung ihrer Eigenschaften oder ihrer Beziehungen untereinander. Zwar hat die ökologische Forschung in den letzten Jahrzehnten gewaltige Fortschritte gemacht, doch viele Prozesse haben wir tatsächlich noch nicht final verstanden. Man stelle sich vor, die Klimaphysik wüsste noch nicht so recht um die physikalisch-chemischen Eigenschaften des Kohlenstoffs Bescheid – das würde so manche Kipppunkt-Berechnung doch erheblich erschweren.

Was wir hingegen trotz aller Kenntnisdefizite inzwischen zu wissen scheinen, ist, dass das mit den Kipppunkten in ökologischen Systemen gar nicht so weit her ist. Während die Klimaforschung die wissenschaftliche Sinnhaftigkeit der Kipppunkte vielfach belegt hat, wurde ebendiese für die Ökologie bereits im Jahr 2013 von einer Autorengruppe um den australischen Naturschutzforscher Barry Brook infrage gestellt. Eine vom Oldenburger Ökologen Helmut Hillebrand geleitete Studie bestätigte dies: basierend auf einer Auswertung einer Vielzahl von Analysen, die bisher zu der Fragestellung durchgeführt wurden, ergaben sich kaum Hinweise auf kippende natürliche Systeme; stattdessen unterstreicht die Studie die Dominanz gradueller Veränderungen. Eine andere Problematik illustriert Josef Settele, Leiter des Departments Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, wenn er sagt, man könne auch jede ausgestorbene Art als eine verstehen, die einen Kipppunkt überschritten hat, wie viele Arten aber aussterben dürfen, bis ökologische Systeme zusammenbrechen, wisse man nur dann wirklich, wenn es zu spät ist.

Der Newton-Raupenfänger (Lalage newtoni)
Weg vom Kipppunkt! Der Newton-Raupenfänger (Lalage newtoni) von der Insel Reunion ist einer der bedrohtesten Vögel weltweit. Mit einer Populationsgröße von ca. 70 Individuen steht er quasi jederzeit vor dem Abgrund des Aussterbens. Doch es ging ihm schon schlechter: Seine Population war zwischenzeitlich schon einmal auf einen deutlich kleineren Wert geschrumpft, doch dank intensiver Naturschutzmaßnahmen stieg der Bestand wieder an. Bild: Christian Hof

Wohl dokumentiert ist freilich die Tatsache, dass es mit der Biodiversität forsch weiter abwärts geht (wenige Ausnahmen bestätigen die weithin dokumentierte Regel). Das sehen wir an den verschiedensten Trends von lokal bis global; das erkennen wir auch daran, dass die Ziele, die als „Aichi-Targets“ von der Weltgemeinschaft sehr wohl auch für die biologische Vielfalt definiert wurden, bisher in übergroßer Mehrheit verfehlt wurden. Man könnte auch etwas ketzerisch fragen, welche Zahl denn bitteschön noch fehlen soll, wenn klar ist, dass von der Insektenbiomasse in westdeutschen Schutzgebieten bis zur weltweiten Individuenzahl der Landwirbeltiere quasi alle numerischen Biodiversitätsindikatoren seit Jahrzehnten immer weiter in den Keller rauschen?! Dass wir angesichts des dramatischen Zustands der Biodiversität also endlich ernst machen müssen mit Gegenmaßnahmen, steht seit langen Jahren außer Frage. Und ebenso, dass es von der Konsumänderung bis zur Schutzgebietsausweitung des umfassendsten Handlungsportfolios bedarf, um den globalen Negativtrend vielleicht doch irgendwann wieder ins Positive zu biegen, wie eine von David Leclère geleitete beeindruckende Analyse in Nature verdeutlicht.

Kurzum: Es mangelt nicht an Evidenz dafür, dass gehandelt und der Schutz der Biosphäre (übrigens um der Menschheit selbst willen!) priorisiert werden muss. Woran es aber mangelt, ist Kommunikation. Und da mag das 1,5°-Ziel dann doch vielleicht nochmals beispielgebend herhalten. Der Klimaschutz steht, wenngleich auch hier die Maßnahmen weit hinter dem Notwendigen zurückbleiben, inzwischen fest auf der politischen Agenda. Woran liegt das, bzw. woran liegt es umgekehrt, dass der Naturschutz politisch immer noch ein „nice-to-have“-Dasein fristet? Da gibt es sicher viele Gründe, deren auch nur ansatzweise Erörterung den Rahmen dieses Gastbeitrags vollends sprengen würde. Doch einer ist sicher der kommunikative Glücksgriff der Klima-Community, für die Vermittlung ihrer Ziele das 1,5°-Ziel (bzw. zuvor das 2°-Ziel) erschaffen zu haben. Eine massive Komplexitätsreduktion zum Zwecke der Vermittlung einer Kernbotschaft anhand einer Zahl: Die Erde soll nicht wärmer werden als 1,5°C. Derweil hantiert die Biodiversitäts-Community mit 20 Aichi-Targets, die, so berechtigt und komplexitätsabbildend sie sein mögen, selbst in ökologischen Fachkreisen hinsichtlich ihres Bekanntheitsgrads (vorsichtig ausgedrückt) noch Luft nach oben haben.

Mehr Präsenz und Priorisierung der Biodiversität in Politik, Medien und Gesellschaft braucht klarere Kommunikation, vielleicht sogar, ja, besseres Marketing – insbesondere mit Blick auf die Eingängigkeit für breite Bevölkerungsschichten. In einem Perspektivpapier im Fachblatt Science schlagen Mark Rounsevell und Kolleg:innen zu diesem Zweck, als Analogon zum 1,5°-Ziel, eine bestimmte Aussterberate für alle großen taxonomischen Einheiten und Ökosysteme vor. Wäre das ein Anfang? Mag sein, dass angesichts der komplizierteren Systeme der Biosphäre nicht eine Zahl ausreicht, sondern wir ein paar mehr brauchen. Mag sein, dass die Aussterberate nicht ideal ist. Aber nicht ideal ist vor allem der Zustand der Biodiversität, und das wohl nicht zuletzt aufgrund des Mangels an medialer, gesellschaftlicher und politischer Wahrnehmung. Wie dieser Mangel schnellstmöglich zu beheben ist, sollte in jedem Fall Gegenstand einer zügigen, v.a. aber zielorientierten (sic!) Debatte sein. Und vielleicht heißt ja hier vom Klimaschutz lernen siegen lernen…

Dr. Christian Hof
Dr. Christian Hof

Dr. Christian Hof

Dr. Christian Hof studierte Biologie an der Philipps-Universität Marburg und promovierte an der Universität Kopenhagen sowie am Nationalen Museum für Naturwissenschaften in Madrid. Nach einem Postdoc-Jahr in Kopenhagen wechselte er 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter ans Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum in Frankfurt. Von 2015 bis 2020 war er Mitglied der Jungen Akademie bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. 2019 erhielt er den Horst-Wiehe-Förderpreis der Gesellschaft für Ökologie. Seit 2018 leitet er eine Juniorforschungsgruppe des Bayerischen Klimaforschungsnetzwerks bayklif an der TU München. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der Verteilung biologischer Vielfalt in Raum und Zeit, insbesondere die Auswirkungen des globalen Wandels auf Verbreitungsgebiete und Biodiversität verschiedener Tiergruppen sind Gegenstand seiner Arbeit. Weitere Informationen: www.biochange.de.



Delegierte bei der Klima-COP in Paris
Bild: IISD ENB

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