- Gastbeitrag März 2022 -

Die zentrale Rolle von Digitaler Sequenzinformation zur Bewältigung der Biodiversitätskrise

Ein Gastbeitrag von Jörg Overmann (Leibniz-Institut DSMZ) und Nike Sommerwerk (MfN)


Die 196 Vertragsparteien des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt werden in Kürze auch über den Umgang mit Digitaler Sequenzinformation (DSI) beraten. Das Ergebnis dürfte tiefgreifende und unmittelbare Auswirkungen auf die Erforschung, das Monitoring, die Nutzung und damit den Erhalt der globalen Biodiversität haben.

Die Beratungen sind Teil der Verhandlungen über eine Folge-Rahmenvereinbarung zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD). Dieser globale Rahmen wird die Verfahren zum Schutz unseres Planeten nicht nur bis 2030 bestimmen, sondern die Weichen weit darüber hinaus stellen. 

NovaSeq Flowcell Moderne Sequenziermaschinen, sogenannte „Next Generation Sequencer“, entschlüsseln die Erbinformationen in parallel laufenden Analysen. Sogenannte „Flow Cells“ sind das Herzstück dieser multiparallelen Analysen im Hochdurchsatz. Innerhalb weniger Stunden lassen sich so die kompletten Genome komplexer Organismen wie Tieren, Pflanzen oder Menschen entschlüsseln und digital speichern. Diese digitalen Daten sind Voraussetzung für Analysen und Vergleiche. Dadurch entstehen riesige Datenmengen die mit Hilfe der Bioinformatik verwertbar und Forschenden weltweit verfügbar gemacht werden.
Bild: IPK Leibniz-Institut
Neben dem Schutz und der nachhaltigen Nutzung der globalen Biodiversität wurde in der CBD bereits 1993 ein gerechter Vorteilsausgleich für die Herkunftsländer bei der Nutzung ihrer genetischen Ressourcen vereinbart.  Wie dieser (monetäre und nicht-monetäre) Vorteilsausgleich bei Zugang zu genetischen Ressourcen und deren Nutzung erfolgt, regelt das Nagoya Protokoll. Dieses trat am 12. Oktober 2014 in Kraft, es gilt sowohl für kommerzielle als auch nicht-kommerzielle Nutzung und bezieht sich auf biologisches Material, die daraus isolierte DNA, Proteine und auch Stoffwechselprodukte. Parallel hat sich im vergangenen Jahrzehnt die Technologie der Nukleinsäure-Sequenzierung explosionsartig entwickelt, wodurch sich die frei zugänglichen DNA-Sequenzen in den öffentlichen Datenbanken alle 18 Monate verdoppeln. 

Einige biodiversitätsreiche Länder des Südens und auch NGOs kritisieren, dass digitale Sequenzinformation auch für kommerzielle Interessen ohne jeden Vorteilsausgleich genutzt werden und fordern daher, DSI (siehe unten [1]) unter die Regelungen des CBD oder des Nagoya-Protokolls zu stellen, damit jedes Land den Zugang zu Sequenzdaten seiner genetischen Ressourcen eigenständig kontrollieren kann. Gleichzeitig klafft eine erhebliche Finanzierungslücke beim globalen Biodiversitätsschutz insbesondere in den biodiversitätsreichen Ländern des globalen Südens und die Enttäuschung über mangelnde ökonomischen Teilhabe ist dort groß. Daher wurde vereinzelt vorgeschlagen, die Nutzung von DSI mit Gebühren zu belegen. Der freie Zugang zu DSI ist jedoch ausschlaggebend für die Biodiversitätsforschung, den darauf basierenden Biodiversitätsschutz (siehe unten [2]), und ebenso die Gesundheit.

DSI ist global und erlangt nur durch die Verknüpfung der Einzeldaten einen Wert

Wie die aktuelle Pandemie von COVID-19 eindrücklich belegt, ist eine globale Erfassung und Bekämpfung von Infektionserregern nur auf der Basis frei verfügbarer DSI möglich. Die Genomsequenz eines einzelnen Erregers ist kaum interpretierbar ohne einen umfassenden Vergleich mit einer großen Zahl weiterer Sequenzen möglichst unterschiedlicher Herkunft – oft lässt sich ein Erreger ohne diese Vergleichsmöglichkeit sogar nicht einmal identifizieren. Dies betrifft auch Infektionskrankheiten von gefährdeten Tieren und Pflanzen: Der Ursprung und die Ausbreitung des weltweiten Amphibiensterbens, verursacht durch einen Befall mit dem Pilz Batrachochytrium dendrobatidis, konnte erst durch den Vergleich der Genome von insgesamt 234 Isolaten aus verschiedensten Ländern ermittelt werden ( O´Hanlon et al., 2018 ). Auch das weltweite Biodiversitätsmonitoring basiert auf dem Vergleich der Sequenzsignaturen. Insbesondere Kleinstlebewesen lassen sich anders kaum erfassen (siehe International Barcode of Life und bioscan-germany). Die Verarbeitung von DSI erfolgt dabei multidirektional. So ermöglicht neue Sequenzinformation oft erst die Interpretation vorher bekannter Sequenzen, die dadurch selbst wieder einen ganz neuen Wert gewinnt. Diese multidirektionale Nutzung kann über ein Bezahlsystem mit Einzelabrechnung pro Nutzer oder Nutzungsvorgang (vergleichbar mit kommerziellen Musik- oder Filmnutzungsangeboten im Internet) nicht erfasst werden. Tatsächlich würde eine Zugangskontrolle zu DSI zum umgehenden Zusammenbruch des erfolgreichen und weltumspannenden Datenaustauschs führen, und Biodiversitätsschutz und -monitoring genauso wie die internationale Zusammenarbeit unmöglich machen.

Nicht nur viele Tier- und Pflanzenarten, sondern insbesondere die meisten Mikroorganismen - Grundlage von 60 Prozent aller Organismen-bezogenen Patente - sind geografisch sehr weit, oft sogar global verbreitet. Der Versuch eines einzelnen Landes, solche Organismen und ihre DSI zu monopolisieren, kann schon allein aufgrund dieser biologischen Tatsache nur ins Leere laufen. Denn dieselben Sequenzen lassen sich problemlos auch in anderen Ländern finden. Die Eigentumsrechte an diesen Daten sind damit kaum regelbar - mit der Folge, dass in einem Land mit Zugangskontrollen zwar die entsprechenden Verwaltungskosten entstehen, aber nicht notwendigerweise auch Einnahmen aus der Nutzung von DSI generiert werden. Das kann im Interesse eines monetären und nicht-monetären Vorteilsausgleiches nicht gewollt sein.

Der freie Zugang zu DSI ist die Grundlage für den Biodiversitätsschutz und eine nachhaltige Entwicklung

Fast die Hälfte aller Sequenzdaten, die mit Herkunftsnachweis (das sind wiederum rund 14% aller hinterlegten Sequenzdaten) in der International Nucleotid Sequence Database Coalition (INSDC) hinterlegt sind, stammen von genetischen Ressourcen aus nur drei Ländern (China, USA, Kanada). Eine kürzlich veröffentlichte Analyse der Herkunft und wissenschaftlichen Nutzung von DSI in Publikationen (Scholz et al., 2021) zeigt, dass viele der Entwicklungsländer deutlich mehr Daten aus den offenen internationalen Datenbanken nutzen, als sie dort selber ablegen. Offenbar trägt das alte Nord-Süd-Narrativ im Fall von DSI nicht. Ein System von Zugangskontrollen für DSI dürfte, so steht zu befürchten, die bestehenden Ungleichgewichte eher noch verstärken, da gerade für Entwicklungsländer vermehrt Gebühren entstünden. Weil DSI eine wichtige Rolle in der nachhaltigen Entwicklung zukommt, müsste es gerade im Interesse der ärmeren Länder sein, den freien Zugang zu biologischen Daten zu erhalten und eine bessere Teilhabe an der weltweiten Dateninfrastruktur zu erreichen.

Neue Lösungsansätze für die zukünftige internationale Zusammenarbeit

Labor-Genomzentrum1 Internationale Zusammenarbeit am Labor Genomzentrum des Leibniz Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK)
Bild: IPK Leibniz-Institut
Basierend auf diesen Fakten sollte der Zugang zu DSI zwingend multilateral geregelt und von den Maßnahmen zur Gewährung des Vorteilsausgleichs entkoppelt werden. Festzuhalten bleibt hier auch, dass ein gebührenfreier Zugang nicht gleichzusetzen ist mit einer gebührenfreien kommerziellen Nutzung. In einer kürzlich erschienenen Publikation (Scholz et al., 2022) haben internationale Wissenschaftler einen konkreten Vorschlag zur Einrichtung eines multilateralen Fonds für die Erforschung und den Schutz der Biodiversität gemacht. Der Fonds ließe sich beispielsweise bei kommerzieller Nutzung von DSI über Gebühren für die erzeugten Produkte und Patente speisen. Länder könnten entsprechend des Umfangs der von ihnen veröffentlichten DSI aus dem Fonds einen wirksamen und planbaren finanziellen Vorteilsausgleich erhalten. Daneben müssen auch nicht-monetäre - aber nicht unweigerlich kostenfreie - Vorteilsausgleiche (Kapazitätsaufbau, Technologietransfer) erfasst und in das System integriert werden. Mit diesem Strauß an Maßnahmen kann der Dreiklang gelingen: Schutz von Biodiversität, internationale Zusammenarbeit und Entwicklung verknüpft mit einem fairen und gerechten Vorteilsausgleich.

Starkes DSI Expertenbündnis

Für eine multilaterale, entkoppelte Lösung setzt sich ein neu gegründetes Bündnis der deutschen universitären und außeruniversitären Biodiversitätsforschung ein. Diesem Bündnis gehören das Leibniz-Forschungsnetzwerk Biodiversität (18 Mitgliedsinstitutionen), der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO mit 25 Fachgesellschaften und 20.000 Verbandsmitgliedern), das Konsortium Deutscher naturkundlicher Sammlungen (DNFS mit 50 Museen) und drei Konsortien der Nationalen Forschungsdatenstruktur (NFDI, mit rund 90 Partnereinrichtungen) an. Auf internationaler Ebene hat sich das DSI Scientific Network mit 53 Mitgliedern aus 17 Ländern, gemeinsam mit 14 zusätzlichen internationalen Organisation, in einem offenen Brief an die politischen Entscheidungsträger für diese Option ausgesprochen. Es ist an der Zeit, dass weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Wissenschaftsorganisation mitdiskutieren und sich für eine faktenbasierte, praktikable und dauerhafte Lösung der DSI-Problematik einsetzen.


[1] Es gilt zu bedenken, dass bislang nicht klar definiert ist, was „DSI“ genau beinhaltet; siehe CBD/DSI/AHTEG/2020/1/7.

[2] Gerade in der Biodiversitätsforschung konnten in den letzten zehn Jahren enorme Beiträge für den für den Biodiversitätsschutz geleistet werden; siehe Global Biodiversity Outlook 5 - Summary for Policymakers.



Jörg Overmann
Bild: Leibniz-Institut DSMZ

Prof. Dr. Jörg Overmann

Direktor der Leibniz-Instituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH

Jörg Overmann, geboren 1961, studierte Biologie mit dem Schwerpunkt Mikrobiologie in Bochum und Freiburg. Er promovierte 1991 an der Universität Konstanz in Mikrobiologie und erhielt dafür den Promotionspreis der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie. Als Postdoktorand verbrachte er einen Forschungsaufenthalt in Kanada, anschließend habilitierte Overmann sich 1999 an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg. Kurz darauf erhielt Overmann einen Ruf auf eine Professur für Mikrobiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dort leitete er seit 2003 das Department Biologie I mit den Sektionen Mikrobiologie, Genetik, Botanik, Biodiversität und Didaktik der Biologie. Im Jahr 2013 wurde Jörg Overmann ausgezeichnet als Inaugural Douglas Leigh Lecturer durch die Waksman Foundation for Microbiology. Seit 2010 bis heute ist er Professor an der Technischen Universität Braunschweig und  Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts DSMZ – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen, Braunschweig.

Dr Sommerwerk_Nike
Bild: Nike Sommerwerk

Dr. Nike Sommerwerk

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Dr. Nike Sommerwerk ist seit 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum für Naturkunde Berlin. Dort leitet sie das Forschungscluster „Biodiversitätswandel in Berlin – Management von Biodiversität in Großstädten“ und ist Leiterin des Biodiversity Policy Labs (BPL). Auch hat sie die wissenschaftliche Koordination des in diesem Gastbeitrag vorgestellten neu gegründeten Bündnisses der deutschen universitären und außeruniversitären Biodiversitätsforschung inne. Auch hat sie die wissenschaftliche Koordination des in diesem Gastbeitrag vorgestellten neu gegründeten Bündnisses der deutschen universitären und außeruniversitären Biodiversitätsforschung inne. 2013-2016 war sie im Projekt „Development of International Water Quality Guidelines for Ecosystems“ an der United Nations University (UNU), Bonn, tätig. Promoviert hat Frau Sommerwerk am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und an der FU Berlin.


Symbolbild: Puzzle mit DNA
Bild: Qimono / Pixabay

Lesetipp:

Gentechnische Entwicklungen basieren heute fast ausschließlich auf Digitalen Sequenzinformationen (DSI) aus weltweit verfügbaren Datenbanken. Die sind von den bisherigen Regelwerken des Übereinkommemd über die biologische Vielfalt (CBD) jedoch bislang nicht erfasst. Die Schwellen- und Entwicklungsländer, die vor allem vom finanziellen Vorteilsausgleich profitieren sollten, befürchten, mit DSI nun leer auszugehen. Sie fordern: DSI ist selbstverständlich eine natürliche Ressource und muss ins Vertragswerk der CBD aufgenommen werden. Die Industriestaaten sehen das anders und fürchten massive Beschneidung der Forschung.

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Themenschwerpunkt: „DSI rein oder wir sind raus“