- Gastbeitrag zum Fachgespäch im Dezember 2022 -

Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen aus der Rückversicherungsperspektive

Ein Gastbeitrag von Oliver Schelske


Die Identifizierung, Bewertung und Bepreisung von Risiken ist eine wichtige Kernaufgabe von (Rück-) Versicherung, noch bevor es zur Bereitstellung von Kapital für die finanzielle Kompensation von möglichen zu versichernden oder versicherten Schäden kommt. Informationen, die durch diese Tätigkeiten generiert werden, senden Signale und Anreize für Empfehlungen, für Maßnahmen und für Verhaltensänderungen zur Verminderung der betrachteten Risiken.

Symbolbild
Graphik: Nora Schmidt für NeFo

Es herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass der Zustand der Natur weltweit kritisch ist – und das bringt verschiedene Risiken mit sich, welche für das (Rück-) Versicherungsgeschäft relevant sind. Einige Beispiele1:

  • 85% aller Feuchtgebiete in terrestrischen Ökosystem sind verloren.
  • 32% der weltweiten Waldfläche ist zerstört. 1/3 der weltweiten Böden können nicht mehr als gesund bezeichnet werden.
  • Die Versauerung der Ozeane hat seit 1850 um 26% zugenommen.
  • 33% aller Fischressourcen sind überfischt.
  • Die Populationen der Süsswasserarten sind seit 1970 84% zurückgegangen, die Populationen der Wirbeltiere um 60%.

Als wichtigste Treiber hinter diesen Entwicklungen sind Änderungen in Land- und Wassernutzung, Klimawandel, Übernutzung natürlicher Ressourcen, Verschmutzung und invasive, gebietsfremde Arten bekannt2. Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen3 – die 'blauen' und 'grünen' Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen UN SDGs 14 und 15 – sind essentiell für alle anderen SDGs (Sustainable Development Goals)4. Losgelöst vom Existenzwert und -recht jeder einzelnen Art und ihrer immateriellen und auch kulturellen Bedeutung für uns Menschen, ist ökonomische Produktion ohne natürliche Ökosystemdienstleistungen schwer vorstellbar. Das World Monitoring Center for Conservation der Vereinten Nationen (UNEP-WCMC) hat die Abhängigkeit von mehr als 500 Wirtschaftssektoren von der Natur vergleichbar gemacht5. Mehr als 50% der weltweiten Wirtschaftsleistung sind mittel bis stark abhängig von funktionierenden Ökosystemdienstleistungen. Je nach betrachtetem Land kann diese Abhängigkeit auch höher oder weniger hoch sein6.

Produzieren stark von der Natur abhängige Unternehmen in Gebieten, in denen die Ökosystemdienstleistungen bereits beeinträchtigt sind, so sind diese Unternehmen im Fall von fortschreitendem Druck auf die Natur größeren produktionsbezogenen Risiken ausgesetzt als Unternehmen aus Sektoren, die weniger abhängig von Ökosystemdienstleistungen sind beziehungsweise die in Gebieten tätig sind, in denen die Natur weniger unter Druck ist. Gemeinhin werden diese Risiken unter dem Begriff der physischen naturbezogenen Risiken zusammengefasst7. Die Materialisierung dieser Risiken kann entsprechende Konsequenzen für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen, deren Kostenstruktur, Attraktivität für Investitionen und Kreditgeber, Arbeitsplatzangebot und Steuerzahlungen an die öffentliche Hand haben.

Sogenannte transitorische Risiken stellen die zweite naturbezogene Risikokategorie dar. Unternehmen müssen sich ändernde gesetzliche Rahmenbedingungen, wie beispielsweise die Einhaltung von Emissionsvorschriften oder von Flächennutzungsauflagen, befolgen. Die Nichtbefolgung, ungeachtet ihrer Gründe, stellt häufig ein Haftungsrisiko dar und kann je nach gesetzlichem Rahmen zu Strafzahlungen, Kompensation und anderen Maßnahmen führen. Konsument:innen können in Abhängigkeit von Bedürfnissen, Kaufkraft und Angebot, und mit zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und der Naturverluste auf unser aller Leben, verstärkt solche Produkte bevorzugen, die einen glaubhaften und zertifizierten Nachweis für einen geringen ökologischen Rucksack erbringen. Dies gilt für langfristige Investitionsgüter, Konsumgüter als auch für Finanzprodukte gleichermaßen. Anbieter, die nicht oder nicht schnell genug über solche Produkte verfügen, könnten dann deutliche Umsatzeinbußen erleiden oder an Attraktivität für Investoren und Kreditgeber verlieren. Systemisch werden Risiken, sobald sie ganze Regionen, Sektoren, oder komplette (Finanz-)Märkte erfassen8. Die finanzielle Verwaltung der Prämieneinnahmen ist für (Rück-)Versicherer durch die Solvenzgesetzgebung geregelt, weshalb die Beobachtung von Kapitalmarktrisiken sehr wichtig ist.


Länderprofile im aggregierten Swiss Re Institut BES Index

zur Veranschaulichung einer makro-ökonomischen und geo-ökologischen Sichtweise auf die mit dem Druck auf die biologische Vielfalt bzw. Ökosystemfunktionen einhergehenden Risiken
Länderprofile im aggregierten Swiss Re Institut BES Index
Erläuterungen zur Graphik: Die Biodiversitäts- und Ökosystem-Index-Familie des Swiss Re Institutes ('SRI BES Index') zeigt u.a. die Kapazität von Ökosystem-Dienstleistungen (DL) und deren wirtschaftliche Bedeutung von der km2 Ebene bis zum Länderquervergleich. Der Index kann auch als ein Mass für die derzeitige Verwundbarkeit und Resilienz von Volkswirtschaften gegenüber ökologischen Gefahren verstanden werden.
Die Abbildung zeigt eine Auswahl von Ländern. Sie basiert einerseits auf den Daten des UNEP WCMC, welche die materielle Bedeutung von Ökosystem-DL für einzelne Wirtschaftssektoren bestimmen, und andererseits auf der Kapazität von zehn verschiedenen Ökosystem-DL. Letztere wurde anhand verschiedenen veröffentlichten Datensätzen von wissenschaftlichen Forscherteams bestimmt. Die zehn Ökosystem-DL sind intakte Habitate, natürliche Bestäubung, lokale Regulierung der Luftqualität, Wasserverfügbarkeit, Wasserqualität, Bodenfruchtbarkeit, Erosionskontrolle, Küstenschutz durch natürliche Ökosysteme, Waldvegetation, Landnutzung Ackerbau. Die Kapazität dieser zehn Ökosystem-DL wurde auf einer siebenstufigen Skala auf km2-Ebene im internationalen Quervergleich ermittelt.
Der Index ist derzeit aufgrund der Datenlage noch statisch. In der unten zitierten Publikation appelliert das Swiss Re Institute an die internationale Gemeinschaft, ein periodisches, räumlich engmaschiges und weltweit vergleichbares Monitoring der Kapazität von Ökosystem-DL einzuführen, um die Veränderungen der Kapazität dynamisch darzustellen – einhergehend mit der sich je nach Ergebnis verändernden Bewertung von sozio-ökonomischer Verwundbarkeit oder Resilienz aufgrund ökologischer Änderungen.
Quelle: Retsa A., Schelske O., Wilke B., Rutherford G., de Jong R. (2020). Biodiversity and Ecosystem Services: A business case for re/insurance. Swiss Re Institute. Zürich. Datengrundlagen: NCFA (UNEP WCMC) 2020, FAO / World Bank 2020, Oxford Economics 2020, und diverse weitere dem (patentierten) Swiss Re BES Index zugrunde liegende Daten (Details siehe Publikation).

Über die oben skizzierte Haftungsthematik hinausgehend, stellt sich die Frage, zu welchen Schäden die Materialisierung der beschriebenen Risiken führen kann und wo diese Risiken für die Sach-, Kranken- und Lebensversicherung relevant werden.

Der 'Stress auf die Natur', zu dem die anfangs genannten Treiber führen, ist hier ausschlaggebend9. Konsequenzen können Störungen von terrestrischen, marinen oder Süßwasser-Ökosystemen sein. Lebensräume für Pflanzen und Tiere werden fragmentiert oder gar zerstört. Die Wahrscheinlichkeit mit zoonotischen Erregern in Berührung zu kommen, kann steigen. Natürliche Flutbarrieren, wie funktionierende Korallenriffe oder Feuchtgebiete, können ihre Funktionen nicht mehr wahrnehmen. Infolge von gestörten Ökosystemen können materielle Schäden, Verletzungen oder sogar Todesfälle häufiger auftreten als wenn die Schutzfunktionen noch völlig intakt wären. Elementarschäden- und Gebäudeversicherungen können diese Schäden zwar decken, müssen jedoch die Preisgestaltung und Schadensentwicklung regelmäßig überprüfen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass weltweit nur rund ein Viertel bis ein Drittel aller Schäden durch Naturgefahren versichert sind. Neben dem enormen persönlichen Leid kann die finanzielle Existenz gefährdet sein, wenn bei nicht versicherten Schäden staatliche Einheiten nicht finanziell einspringen.

Weiter können die 'Stressfaktoren' die natürliche Befruchtung von (Nahrungs-)pflanzen, das Wachstum von Holz als Baumaterial und die Verfügbarkeit von Frischwasser in Menge und Qualität einschränken. Die Folgen können eine weniger vielfältige Ernährung, höhere Preise für Inputfaktoren, beispielsweise für die Nahrungsmittelverarbeitung oder die Bauwirtschaft, oder Knappheiten sein. Als 'Zweitrundeneffekt' kann mittel- bis langfristig die Wahrscheinlichkeit von Produktivitätsverlusten oder Betriebsunterbrüchen (ohne Unfälle) steigen. Meere übersäuern, werden verschmutzt oder sind von zu hohen Nährstoffeinträgen betroffen. Dies bringt entsprechende negative Konsequenzen für lokale Subsistenz, Entwicklungsoptionen, Überlebensfähigkeit und globale Fischerei mit sich.

Vielfach sind jedoch die genauen Ausmaße von biodiversitäts- oder ökosystemfunktionsbezogenen Risiken nicht detailliert genug bekannt. Klassifizierungen im Quervergleich der verschiedenen Sektoren, welche ökonomischen Aktivitäten zu welchen positiven oder negativen Auswirkungen auf die Natur führen, bezogen auf die spezifische geo-ökologische Situation am Ort einer solchen Aktivität, werden vermehrt erarbeitet. Deshalb ist Forschung, die beispielsweise über Input-Output-Modelle, Wertschöpfungs- sowie Lebenszyklusanalysen die ökologischen Folgen von Gütern und Dienstleistungen genauer bestimmt, wichtig. Ebenso sind Aktivitäten, die zur Kommunikation und Standardisierung von biodiversitätsbezogenen Unternehmensdaten führen, wie es das Ziel der Task Force on Nature Related Financial Disclosures (TNFD), ist, zu begrüßen. Da der Klimawandel ein starker Treiber von Biodiversitätsverlusten ist, ist hierfür die Anlehnung an die TCFD Task Force on Climate Related Financial Disclosures wichtig. Zunächst gilt es, einen international anerkannten und wissenschaftlich abgestützten Rahmen zur Erfassung und Kommunikation dieser Daten zu gestalten und zu etablieren, um die Konsistenz bei der Umsetzung von nationalen Initiativen zu unterstützen. Ferner ist es nötig, einen solchen Erhebungsrahmen anschließend über Sektoren hinweg zu erproben und gegebenenfalls anzupassen.

Letztendlich bedeutet das nicht, dass solche Forschungsergebnisse abgewartet werden müssen. (Rück-) Versicherer haben bereits jetzt Möglichkeiten, zusammen mit anderen Akteuren, positiv auf die Natur einzuwirken.

Zum einen ermöglicht das Risikomanagement, die Vermögensverwaltung, wie auch das Underwriting den Ausschluss von Unterstützung von wirtschaftlichen Aktivitäten in jeglichen Gebieten mit hoher Bedeutung für den Naturschutz – weltweit. Außerhalb dieser Gebiete können (Rück-)Versicherer Projekte lediglich dann unterstützen, wenn strikte, überprüfbare und unabhängige Umweltverträglichkeitsprüfungen vorliegen, die auch Auswirkungen auf Klima und Biodiversität berücksichtigen. Zum anderen können für die Sektoren, die besonders von der Natur abhängig sind oder die besonders negativ auf die Natur einwirken, spezifische zwingend einzuhaltende Richtlinien entwickelt werden, um naturbezogene Risiken zu minimieren10.

Staatliche Akteure bzw. deren private Auftragnehmer oder private Landbesitzer können bei Investitionen in die Regeneration der Natur, z.B. Wiederherstellung von Feuchtgebieten, versichert werden, was die Risiken während der Baumaßnahmen für die Wiederherstellung betrifft. Dies setzt wiederum voraus, dass die positive Wirkung auf die Biodiversität zuvor geprüft und bestätigt wurde.

Auszahlungen infolge von Schäden können auch an die Verbesserung des Ökosystems gekoppelt werden, sofern es einen klaren Zusammenhang zwischen Schaden und Ökosystemfunktion gibt. Beispielsweise können tropische Stürme sowohl Gebäude schädigen als auch Riffe oder Mangroven verschmutzen, wodurch Arten beeinträchtigt werden und die Küste schlechter geschützt ist. Die Beeinträchtigungen könnten verringert werden, indem Teile von Schadenszahlungen zur Bezahlung von lokalen Gruppen verwendet werden, welche das Küstenökosystem reinigen und somit einen Beitrag zu Regenerierung leisten11.

Letztlich ist die Problematik des Biodiversitätsverlustes und die Beeinträchtigung der Ökosystemdienstleistungen komplex, global wie lokal relevant und räumlich unterschiedlich ausgeprägt. Deshalb kann die Problematik nur durch gemeinsame Anstrengungen aller Akteure gelöst werden. Aufgrund ihrer Multifunktionalität muss eine Biodiversitäts-Politik als Querschnitts-, nicht als Fachpolitik verstanden werden.
1 UNDP Sustainable Insurance Forum (SIF) (2021). SIF scoping study: Nature-related risks in the global insurance sector. United Nations Development Programme, New York. Page 4, figure 4, and quoted literature.

2 IPBES (2019). Global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. Brondizio ES, Settele S, Diaz S, Ngo HT (editors). Bonn.

3 Allgemein werden vier Kategorien von Ökosystemdienstleistungen unterschieden: 1) "bereitstellend / produzierend" (u.a. Zellstoff, Nahrung, Frischwasser), 2) "regulierend" (u.a. Luftreinigung, Wasserreinigung), 3) "unterstützend / Prozesse" (u.a. Bodenbildung, Befruchtung), 4) kulturell / spirituell / religiös / ästhetisch / edukativ / erholend. MEA Millennium Ecosystem Assessment (2003). Ecosystems and Human Wellbeing. A Framework for Assessment. Washington.

4 Obrecht A, Pham-Truffert M, Spehn E et al (2021). Achieving the SDGs with Biodiversity. Swiss Academies Factsheet 16 (1). Bern.

5 NCFA (2020). Exploring Natural Capital Opportunities, Risks and Exposure (ENCORE). Tool developed by the Natural Capital Finance Alliance in partnership with UNEP-WCMC.

6 Retsa A., Schelske O., Wilke B., Rutherford G., de Jong R. (2020). Biodiversity and Ecosystem Services. A business case for re/insurance. Swiss Re Institute. Zurich. WEF/PWC (2020). Nature Risk Rising. Geneva/Cologny.

7 OECD (2019). Biodiversity: Finance and the economic and business case for action. Report prepared for the G7 Environment Ministers' meeting 5-6 May 2019. Paris.

8 Ibid.

9 Commonwealth Climate and Law Initiative CCLI (2020). The emergence of foreseeable biodiversity-related risks for financial institutions. A gathering storm? Pp. 13.

10 Swiss Re (2020). Sustainable Business Risk Framework. Zurich.

11 Schelske O, Bohn J, Fitzgerald C (2021). Insuring Natural Ecosystems as an Innovative Conservation Funding Mechanism: A Case Study on Coral Reefs. Chpt. 19, Handbook of Disaster Risk Reduction for Resilience. Springer International Publishing.

Schelske
Foto: Oliver Schelske
Oliver Schelske ist Direktor am Swiss Re Institute und als Leiter Natural Assets & ESG Research für die Integration des Themas Biodiversität/Ökosystemfunktionen zuständig. Zuvor war er für die Bereiche Forschungsbeziehungen und Issue Management mitverantwortlich und hat dabei für die Swiss Re die Kommunikation zu den Themen Nahrungsmittelsicherheit und Erneuerbare Energien aufgebaut. Vor seiner Zeit bei der Swiss Re war er Senior Sustainability Berater, Leiter Umweltmanagement und co-Leiter Zukunftsforschung bei Ernst Basler und Partner. Oliver studierte Umwelt- und Regionalökonomie in Deutschland und den USA und hat im Jahr 2000 an der Universität Zürich zum Thema Biodiversität und Ökonomie promoviert, wo er auch an Feldarbeiten in Flachmooren teilnahm.