- Themenschwerpunkt Juli 2021 -

Die EU mit ihrer neuen EU - Biodiversitätsstrategie als Zugspferd für die globalen Biodiversitätsziele?

Ein blick auf die Rolle der EU - Biodiversitätsstrategie für 2030

Interview mit Stephan Piskol, Projektmanager im Themenbereich Biodiversität bei adelphi. Das Interview führte Sebastian Tilch für NeFo.


Im Dezember 2019, nur 11 Tage nach ihrem Antritt, stellte die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen den Europäischen Green Deal vor. Als Teil des Green Deals wurden im Mai 2020 die „Farm to Fork“-Strategie („vom Hof auf den Tisch“) sowie die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 veröffentlicht. Damit hat die Europäische Union ihre neue Biodiversitätsstrategie – im Gegensatz zur letzten vor 11 Jahren – zeitlich vor dem neuen globalen Biodiversitäts-Fahrplan der Konvention zur biologischen Vielfalt (CBD) herausgebracht. Dies tat sie ganz bewusst, um bei den Verhandlungen der globalen Ziele als Vorreiter aufzutreten und einen „umfassenden, ambitionierten und langfristigen Plan“ auch auf globaler Ebene voranzutreiben.
Prozess-Graphik: Weg zum post-2020 GBF
Die EU-Biodiversitätsstrategie enthält 17 „zentrale Verpflichtungen bis 2030“ im Bereich Naturschutz und Wiederherstellung, mit denen sie wichtige Treiber und Bedrohungen aufgreift. Diese Verpflichtungen sind verknüpft mit „Schlüsselmaßnahmen“ und auch zeitlichen terminiert. Darüber hinaus liefert die Strategie ein Kapitel zu Unterstützungsfaktoren und transformativem Wandel sowie dem internationalen Engagement der EU. In den während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft verhandelten Ratsschlussfolgerungen sowie dem kürzlich veröffentlichten Initiativbericht des Europäischen Parlaments haben auch die beiden Mitgesetzgeber der EU die Strategie anerkannt.


NeFo: Herr Piskol, die EU bezeichnet ihre neue Biodiversitätsstrategie als ambitioniert. Teilen Sie diese Meinung?

Stephan Piskol: Das hängt sehr davon ab, ob man die Perspektive des Naturschutzes oder der Politik einnimmt. Beispielsweise ist die Verpflichtung, dass „Lebensräume und Arten keine Verschlechterung der Erhaltungstendenzen und des Erhaltungszustands aufweisen und mindestens 30 Prozent dieser Lebensräume und Arten einen günstigen Erhaltungszustand oder zumindest einen positiven Trend verzeichnen [sollen]“, aus Naturschutzsicht nicht besonders ehrgeizig – und trotzdem wird es vermutlich schwer werden, dieses Ziel zu erreichen.
Insgesamt ist die Strategie aber doch ambitioniert und wegweisend, vor allem, da sie im Vergleich zur vorherigen Biodiversitätsstrategie deutlich klarer und messbarer formuliert ist und einen ganzheitlicheren Ansatz verfolgt. Allerdings kommt es durch den nicht-bindenden Charakter der Strategie natürlich auch auf die Umsetzungsmechanismen hinter den Zielen, sowie auf deren weitere Ausgestaltung und die Akzeptanz durch die Mitgliedsstaaten und bei neuer Rechtssetzung des Parlaments an. Wenn man diese Aspekte mitberücksichtigt unterscheiden sich die verschiedenen Teile der Strategie hinsichtlich der Wirkung, die sie entfalten können.

NeFo: Welche Teile davon würden Sie als besonders bzw. wirklich ambitioniert und vorbildlich bezeichnen?

Stephan Piskol: Schutz und Wiederherstellung von Natur sind natürlich auch auf grundlegendere Änderungen unserer Lebensweise und transformativen Wandel angewiesen. Dabei kommt es aber darauf an, ob diese Änderungen auch zeitnah und zielgerichtet in der Landschaft (oder bei den durch direkte Nutzung bedrohten Arten) ankommen. Entsprechend sind klassische Naturschutzansätze nach wie vor unverzichtbar.
Hier sind vor allem die Verpflichtung, "10 Prozent der Landes- und Meeresfläche unter strengen Schutz zu stellen" sowie „10 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen als Landschaftselemente mit großer biologischer Vielfalt“ auszuweisen, von Bedeutung. Hinter beiden Verpflichtungen steht die Erkenntnis, dass (1) Mensch und Natur zwar auf einem Großteil der Fläche koexistieren können, (2) die Natur aber ein Mindestmaß an Fläche und vernetzenden Strukturen für sich selbst benötigt.
Die größten Erwartungen für eine echte Trendumkehr liegen momentan aber auf dem anstehenden Wiederherstellungsgesetz . Hier erarbeitet die Kommission gerade ein neues Rechtsinstrument, das verbindliche Wiederherstellungsziele vorschreiben soll (siehe aldephi-Webseite).

NeFo: Die neue EU-Biodiversitätsstrategie ist nun ja schon über ein Jahr alt. Wie bewerten Sie die Umsetzung der Biodiversitätsstrategie, insbesondere da in der Zwischenzeit weitere politische Abkommen der EU getroffen wurden, die die Biodiversität beeinflussen?

Stephan Piskol: Beim letzten Treffen der „Coordination Group for Biodiversity and Nature“ (CGBN) hat die Kommission eine umfangreiche Übersicht der bisherigen Umsetzung der Strategie vorgestellt . In dieser sind, anders als in der Strategie selbst, über 100 Maßnahmen aufgelistet. Einige davon sind seitens der Kommission bereits abgeschlossen, jedoch wird die Strategie natürlich über den gesamten Zeitraum bis 2030 umgesetzt. Als Beispiel eignen sich auch hier die beiden oben genannten 10%-Ziele.
Zum 10 Prozent-Ziel für strenge Schutzgebiete wird gerade eine EU-eigene Definition entwickelt . Danach sollen die Mitgliedsstaaten bestehende und geplante Gebiete melden, die dann (nur) auf biogeographischer Ebene beurteilt werden (pledge and review mechanism). Der strenge Schutz aller verbleibenden Primär- und Urwälder wurde auch in die neue EU-Waldstrategie aufgenommen .
Das 10 Prozent-Ziel für Landschaftselemente und nicht produktive Flächen war innerhalb der Kommission eines der am stärksten umstrittenen Teile der Strategie. Umgesetzt werden sollte es über die neue Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP). Beim Kompromiss zwischen EU-Parlament und Rat der Europäischen Union haben es die beiden Mitgesetzgeber bewusst vermieden, sich stark zu den Zielen der Biodiversitätsstrategie, des Green Deals oder der „Farm-to-Fork“-Strategie zu bekennen. Statt 10 wurden nun 4 Prozent über die Standards für einen guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand (GLÖZ 9) als verbindliches unteres Ziel festgelegt, wobei es Ausnahmen nach unten gibt. Zum Vergleich: momentan machen Brachland und Landschaftselemente EU-weit ca. 3,7 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche aus (siehe EU Agricultural Outlook und Eurostat Farm and farmland statistics). Die restlichen 6 Prozent sollen über die freiwilligen Elemente der GAP geschaffen werden.

Alte Buche
Die EU-Biodiversitätsstrategie zeigt Wirkung. Der dort formulierte strenge Schutz aller verbleibenden Primär- und Urwälder wurde auch in die neue EU-Waldstrategie übergenommen. Die EU-Agrarreform ging hier weniger weit. Bild: Tzvetan Zlatanov
NeFo: Wie ist also Ihr Fazit? Spiegeln sich die Ziele der Biodiv-Strategie in den anderen EU-Abkommen wider? Kann die EU global als ambitionierter Vorreiter auftreten?

Stephan Piskol: Dass die nächste GAP kein sehr verbindlicher Umsetzungsmechanismus für Biodiversitätsziele werden würde war leider zu erwarten. Dessen ungeachtet sind die Ziele der Strategie aber weiterhin ambitioniert und ihre Umsetzung hat auch gerade erst begonnen.
Und auch beim Thema Landwirtschaft müssen die Mitgliedsstaaten bei der Erstellung ihrer GAP-Strategiepläne für das „spezifische Ziel Biodiversität“ den aktuellen Wissenstand berücksichtigen. Das 10 Prozent-Ziel für Landschaftselemente und nicht produktive Flächen ist dabei wissenschaftlich begründet und somit für alle Beteiligten weiterhin relevant.

NeFo: Welchen Einfluss hat die EU-Biodiversitätsstrategie auf andere politische Handlungsfelder wie Finanzpolitik oder Energiepolitik in der EU bzw. in den Mitgliedstaaten?

Stephan Piskol:
Die beiden genannten Handlungsfelder sind aktuell eng miteinander verknüpft.
Zur Nachhaltigkeit von Bioenergie gibt es in der Strategie keine Verpflichtungen, sondern als Umsetzungsmaßnahme wurden von der Gemeinsamen Forschungsstelle (Joint Research Centre) der Kommission zwei Studien erstellt (The use of woody biomass for energy production in the EU und Biomass flows in the European Union).
Allerdings ist die Nachhaltigkeit von Bioenergie einer der zentralen Aspekte bei der weiteren Ausgestaltung der EU-Taxonomie-Verordnung. Diese umfasst sechs Umweltziele, für die Standards für nachhaltige Investitionen festgelegt werden. Dies geschieht unter starker Einbindung von Stakeholdern und Interessengruppen über die Plattform für nachhaltige Finanzen. Während der Verhandlungen zur Klimaverträglichkeit von Forstwirtschaft, Bioenergie und Erdgas drohten die Vertreter der Umweltverbände damit die Plattform zu verlassen. Ähnlich kontrovers dürfte die Ausarbeitung von Prüfkriterien zur Verträglichkeit von Wirtschaftstätigkeiten mit dem Umweltziel „Schutz von Ökosystemen und Biodiversität“ werden. Hier können die Ziele der Strategie einen wichtigen Referenzpunkt bilden, um Landnutzungspraktiken zu bewerten.

NeFo: Wo sehen Sie den Schlüssel für eine erfolgreiche Implementierung der EU-Biodiversitätsstrategie und wie könnte das erreicht werden?


Stephan Piskol: Im Endeffekt wird EU-Politik immer durch die Mitgliedsstaaten umgesetzt, und hier ist der politische Wille sowie die Durchsetzung seitens der Kommission ausschlaggebend. An den vielen Vertragsverletzungsverfahren zum Beispiel im Bereich Natura2000 oder invasiver gebietsfremder Arten etwa zeigt sich, wie schwierig dies selbst bei verbindlichen und von den Mitgliedsstaaten beschlossenen Gesetzen ist. Dabei wird die Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten nicht nur von Partikularinteressen in Teilen der Regierungen gemindert. Auch Umweltministerien in manchen EU-Mitgliedsstaaten schrecken mitunter vor den neuen Herausforderungen und potenziellen Konflikten zurück.
Gleichzeitig sind der Politik aber auch Grenzen durch die gesellschaftliche Akzeptanz gesetzt, die man nicht ignorieren sollte. Neben einer frühen Einbindung aller Betroffenen seitens der Politik können die Bürger*innen auch selbst die Grenzen des politisch Möglichen hin zum ökologischen Nötigen verschieben. Der Green Deal selbst ist dafür das beste Beispiel, denn er wurde von der konservativ geführten Kommission von der Leyen als Reaktion auf die Verluste der Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten bei der Europawahl 2019, sowie im Lichte einer damals noch auf den Straßen demonstrierenden Fridays for Future-Bewegung entworfen. Es zählt also jede Stimme – bei der Wahl und beim gesellschaftlichen Engagement.

NeFo: Welche Rolle könnte dabei wiederum die CBD spielen?


Stephan Piskol: Der letzte Entwurf (First Draft) der CBD für einen internationalen post-2020 Rahmen ist noch nicht übermäßig ambitioniert. Zum einen sind viele Ziele nun zwar quantifiziert, aber teilweise nicht sehr intuitiv formuliert (Bsp.: 2030 Milestone A.1 „Nettogewinn des [...] Vernetzungsgrades [...] der natürlichen Systeme von mindestens 5 Prozent”). Zum anderen fehlt ein Governance-Mechanismus, der den Ansprüchen eines „Paris-Moments für Biodiversität“ gerecht wird. Trotzdem kann auch die Vertragsstaatenkonferenz COP-15 für die EU wichtige Impulse setzen, zum Beispiel hinsichtlich des Abbaus biodiversitätsschädlicher Anreize und Subventionen.

Moorlandschaft
Funktionsfähige Moore erfüllen eine Vielzahl ökologischer Leistungen: Lebensraum für die Artenvielfalt, Wasserreservoir, Erholungsraum für Menschen und Klimaschutz als Kohlenstoffsenke. Die Wiederherstellung dieser Ökosysteme ist ein Beispiel für die geforderten Renaturierungsansätze im First Draft der CBD. Bild: AnnaAnouk / Pixabay
NeFo: Welchen Einflussmöglichkeiten hat bei der Implementierung aus Ihrer Sicht die Forschung?

Stephan Piskol: Ich glaube zur Beantwortung dieser Frage gehört zu allererst, dass die verschiedenen Ministerien sich auch den von ihnen selbst bzw. von ihren Fachbehörden finanzierten Forschungsergebnissen verpflichtet fühlen sollten. Der Naturschutz leidet nicht in erster Linie an einem Wissensdefizit, sondern an einer mangelnden Berücksichtigung von vorhandenem Wissen. Um die Berücksichtigung ihrer Ergebnisse können Forschende sich aber natürlich auch selbst bemühen. Dazu gehört meiner Meinung nach, sich nicht nur auf die Umsetzung und spätere Bewertung politischer Maßnahmen zu konzentrieren. Gerade die oben genannten Prozesse verdeutlichen die Bedeutung von wissenschaftlichen Erkenntnissen schon während des Policy Designs, bzw. noch davor beim Agenda setting.

Das bereits erwähnte Wiederherstellungsgesetz ist hierfür ein gutes Beispiel. Ein neues Naturschutzgesetz mit einer potenziell so starken Wirkung gab es zuletzt Anfang der 90-iger Jahre mit der FFH-Richtlinie. Damals war ich in der Grundschule, und beim nächsten Mal werde ich vermutlich in Rente sein. Für viele Akteuer*innen im Naturschutzbereich ist dies also eine einmalige Gelegenheit, die Entstehung des Gesetzes von Beginn an mitzuverfolgen. Zudem kann der neue Fokus auf Wiederherstellung auch in die Gesellschaft ausstrahlen. Demgegenüber ist das Interesse an dem aktuellen Prozess aber eher verhalten.
Wenn die Kommission voraussichtlich Ende dieses Jahres ihren Gesetzesvorschlag veröffentlicht haben wird, übernehmen der Rat der EU und das Parlament dessen weitere Entwicklung.
Beeinflusst werden sie dabei von vielen guten und schlechten „Ratschlägen“ von Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft.

Ich denke, es würde der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft nicht gerecht, Verbesserungsvorschläge erst dann zu machen, wenn der wesentliche Rahmen schon gesetzt ist.
Hier kann die Zusammenarbeit mit Interessenverbänden wie Naturschutzverbänden, Scientists for Future, Berufsverbänden im Naturschutz usw., oder politiknahen Forschungsinstituten helfen. Denn politischer und wissenschaftlicher Diskurs unterliegen sehr unterschiedlichen Regeln, und ‚Übersetzungsfehler‘ können mitunter auch Schaden anrichten. Eventuelle Irritationen auf beiden Seiten (Stichwort: „Das können wir so nicht sagen“) sind dabei gegebenenfalls der Preis für einen größeren Effekt und können dabei auch neue Perspektiven auf die eigene Arbeit eröffnen. Ich kann also nur dazu ermutigen, die Entstehung neuer Gesetze in Brüssel und Berlin von Beginn an mitzuverfolgen und sich mit den beteiligten Akteur*innen zu vernetzen.


Stephan Piskol
Stephan Piskol, Projektmanager im Themenbereich Biodiversität bei adelphi ( Bild: adelphi)

Stephan Piskol hat Biologie und Umweltmanagement studiert und arbeitet bei adelphi, einem unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstitut für Klima, Umwelt und Entwicklung in Berlin. Der Themenbereich Biodiversität befasst sich dabei mit Naturschutzpolitik, Naturschutzkommunikation, Landnutzung, und Dialogprozessen sowohl auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Als Projektmanager betreut er Politikberatungs- und Forschungsprojekte zu Landwirtschaftspolitik sowie zur Umsetzung der Europäischen Biodiversitätsstrategie und der Wiederherstellung von Ökosystemen. Im Interview sprachen wir mit ihm über die Stärken und Schwächen der neuen Strategie und ihre Bedeutung im Spannungsfeld der globalen Naturschutzpolitik.