- Interview September 2021 -
Die Beziehung zwischen Mensch und Stadtnatur
Im NeFo-Interview: Dr. Florian Dirk Schneider, ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung
Über das Projekt „Stadtnatur-Entdeckungen im Lockdown“: Der Corona-Lockdown wurde als Anlass genommen, mehr über die Sichtweisen, die Nutzung und Bewertung von Stadtnatur durch die Bürgerinnen und Bürger in Frankfurt zu erfahren. Dabei verfolgten die Forscher*innen am ISOE den Ansatz der Spaziergangswissenschaften. Sie haben Menschen auf ihren typischen Routen während des Lockdowns begleitet und zu ihren Wahrnehmungen, Nutzungen und Bewertungen von Stadtnatur befragt. Dabei sind 20 qualitative Go-Along-Interviews entstanden. Die Teilnehmer*innen konnten in den Interviews ihre persönlichen, alltäglichen Begegnungen mit der Natur in der Stadt zeigen.
NeFo: Was war die Zielsetzung des Projektes und was wollten Sie mit dem Projekt erreichen?
Florian D. Schneider: Die Interviews dienten als Brennglas für die Wahrnehmung und Nutzung der Natur in der Stadt. Natur wird sehr unterschiedlich wahrgenommen, jeder zieht die Grenze zwischen Natur und vom Menschen Geschaffenem anders.
Der Begriff Stadtnatur ist hier bezeichnend. Was ist Natur in der Stadt? Wo ist sie zu finden? Und was ist keine Natur, sondern ganz klar menschlich gemacht? Was ist Kultur? Das zeichnet das Zeitalter des Anthropozäns aus. Die Grenze zwischen Natur und Kultur verschwimmt. In der Stadt werden Natur und Mensch auf engem Raum zusammengebracht. Das Projekt liefert einen explorativen Ansatz, wie Natur in der Stadt betrachtet und bewertet werden kann, beispielsweise für zukünftige Entscheidungen.
NeFo: Das ISOE hat sechs Gestaltungsprinzipien für den sozial-ökologischen Wandel entworfen. Bei Prinzip eins geht es um die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur. Das Projekt thematisiert die menschliche Erfahrung der Stadtnatur, wie hängt das mit dem Gestaltungsprinzip des ISOE zusammen? Können Sie das erste Prinzip „Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur in den Mittelpunkt rücken“ am Beispiel des Projektes Stadtnatur erläutern?
Florian D. Schneider: Die Interviews sollten zunächst die Beziehungen zwischen Mensch und Natur beschreiben. Beziehungen sind eben mehr als Nutzungen. Uns geht es darum, nicht immer nur die messbaren Nutzungsintensitäten, wie zum Beispiel den Flächenverbrauch in der Stadt zu beschreiben, sondern auch den Blick auf die wechselseitigen Interaktionen zu richten. Also zum Beispiel, wo durch die menschliche Aktivität in der Stadt auch Lebensräume für Tiere und Pflanzen entstehen. Es geht zum einen um ein physisch-materielles Verhältnis wie die Stadtnatur als Ort oder als Landschaft, als Lebensraum für Mensch, Tiere und Pflanzen. Und zum anderen aber auch um ein symbolisches und kulturelles Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Die Beziehungen, die in unseren Interviews zum Ausdruck kamen, sind persönliche Erlebnisse, eigene Geschichten, die aus Routinen oder Erinnerungen entstehen, zum Beispiel Joggen im Park am Morgen, Beeren pflücken mit den Großeltern, oder ein zutraulich gewordenes Rotkehlchen. Die individuelle emotionale Wahrnehmung spielt bei vielen eine große Rolle. Dadurch sehen wir, warum und wie die Menschen die Biodiversität wahrnehmen und bewerten.
Das erste Prinzip der Gestaltungsprinzipien beschreibt, dass man genau diese Beziehung erstmal kennen muss, um sie später auch gestalten zu können. Der erste Schritt ist das Beschreiben der Beziehungen und der Wahrnehmungen davon, um dann zu einem Handeln zu kommen und um die Zukunft gestalten zu können.
NeFo: Wie kann dieser symbolisch-kulturelle Ansatz im Mensch-Natur-Verhältnis genutzt werden? Welche Handlungsansätze gibt es?
Florian D. Schneider: Es gibt bereits partizipative Prozesse, die integrativ vorgehen und zum Beispiel die Grünraumnutzungen und die Lebensqualität der Teilnehmenden erfassen und in die Planung einbeziehen. Zudem gibt es Fortschritte in der Stadtplanung, indem Lebensräume für verschiedene Tierarten bei der Bebauung mitbedacht werden (sogenanntes Animal Aided Design), oder Biotopflächen mittel- bis langfristig besser vernetzt werden können, um der Natur wieder mehr Raum zu geben.
Es geht aber meiner Meinung nach auch darum, Schnittstellen zu finden in dem Prozess, die Stadt lebenswerter zu machen, zum Beispiel bei der Überlappung zwischen Wohnraumqualität und Biodiversitätsschutz. Wir untersuchen mit den Spaziergängen einen dieser Überlappungsbereiche, um Argumente zu liefern für die Berücksichtigung von subjektiven Werten und Nutzungs- und Beziehungsmustern von Natur in der Stadt. Wichtig ist es, zukünftig all diese unterschiedlichen Aspekte und verschiedenen Ansätze in Planungs- und Entscheidungsverfahren zu integrieren.
Florian D. Schneider: „Living in harmony with nature“ in Städten ist der Anspruch auch auf dichtem Raum, wo Menschen eng zusammenleben, in Einklang mit der Natur zu leben. Der Fokus des Projekts liegt auf den Beziehungen und Verflechtungen von Mensch und Natur in der Stadt und die Nutzung direkt vor der eigenen Haustür. Mit dem Projekt können neue Maßstäbe entwickelt werden für die Wertschätzung und Bewertung von Stadtnatur. Was sind Gründe für den Erhalt der Natur in der Stadt? Aus der Biodiversitätsforschung gibt es bereits viele Gründe, aber um auch zu einer guten Wertschätzung durch die Bewohner*innen zu kommen, müssen wir verstanden haben, was denn der Bewertungsmaßstab ist. Wann halten sich Menschen in der Natur auf und wann nicht? Wann pflegen Menschen eine Beziehung zur Natur und wann nicht?
Wenn wir Städte so gestalten, dass Natur erlebt werden kann, hat das auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung und gegebenenfalls auf das Konsumverhalten. Wie sich Menschen in der Stadt auf die Natur einlassen, wo sie Natur brauchen, ist eine wichtige planerische Dimension. Wenn wir nur auf den naturwissenschaftlichen Aspekt des Biodiversitätsschutzes blicken, reicht das nicht aus. Wir müssen Naturräume auch als menschliche Lebensqualität entwickeln.
NeFo: Welche Bedeutung hat der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, wird dieser auch in dem Projekt deutlich?
Florian D. Schneider: Bei verschiedenen Themen in unseren Interviews wurden Gerechtigkeitsaspekte deutlich, beispielsweise hinsichtlich des Zugangs zur Natur oder der Bedeutung von Bildung und Wissen für die Naturwahrnehmung. Diese ist auch abhängig davon, aus welcher gesellschaftlichen Schicht der Betrachter kommt.
Wie die Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur durch soziale Gerechtigkeit beeinflusst wird, kann an dem Aspekt Zugang zur Natur anschaulich gemacht werden. Einen Garten muss man sich erstmal leisten können, wenige der Interviewten hatten Zugang zu einem eigenen Garten. Eine Alternative sind der eigene Balkon oder Parkanlagen. Häufig gab es Engagement in Urban Gardening-Projekten. Diese haben eine starke soziale Komponente. Sie bieten einen Ort, um sich zu unterhalten und sind ein wichtiger Lernraum. Es gibt ein offenes kostenloses Angebot, das einlädt zur Teilhabe. In Schrebergärten ist auch der Gemeinschaftsgedanke wichtig, sie werden aber eher als Privileg und Rückzugsort wahrgenommen, das man nicht unbedingt mit anderen teilt. Das hat, gerade während der Lockdowns, stark an Bedeutung gewonnen und die Nachfrage stark befeuert. Dadurch wurde es sehr schwer, den Traum von einer eigenen Gartenparzelle in der Stadt zu verwirklichen.
Der Zugang zur Stadtnatur ist sehr unterschiedlich, so ist in manchen sozialen Milieus, in manchen Stadtteilen der Zugang zu Parks und privaten Grünflächen eingeschränkt, weil sie weit entfernt sind oder nicht so hochwertig, aber auch weil die Menschen vielleicht eher nicht die Zeit und das Interesse haben, sich dort aufzuhalten. Für das Gestaltungsprinzip „Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur in den Mittelpunkt rücken“ ist es interessant, wie Städte und Grünräume geplant werden, wie die Nähe zu Grünflächen und die Qualität als Lebensraum ist. Auch hier ist wichtig, dass die Bedeutung für den Menschen bekannt ist und dass jedem ein Zugang gewährleistet wird, unabhängig von der Siedlungsstruktur.
„Aber deswegen finde ich z.B. diesen Gallus-Garten einfach so cool, dass man mitten in der Stadt die Möglichkeit hat, sich auszuprobieren. Ich meine, es gibt genügend Wohnungen, die keinen Balkon haben oder keine Terrasse oder Zugang irgendwie. Von daher ist das echt cool, daß man trotz zentral leben die Möglichkeit irgendwie bekommt, zu gärtnern.“O-Ton eines Interviewteilnehmers, © 2021 ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung |
NeFo: Gibt es Schnittstellen von Ihrem Projekt zu Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen in der Stadt?
Florian D. Schneider: Das Thema Klimawandel kam oft zur Sprache. Wir haben die Teilnehmenden auch gefragt, wie sich die Stadt verändert hat. Dabei wurden Veränderungen durch Effekte des Klimawandels auf die Stadtnatur, zum Beispiel der Trockenstress der Stadtbäume und Grünflächen, wahrgenommen. Es gab aber auch ein Verständnis für die Stadtnatur als Maßnahme zur Klimawandelanpassung. Die meisten, die teilgenommen haben, hatten ein Problembewusstsein für Nachhaltigkeit und Klimawandel.
NeFo: Was sind die spannendsten Ergebnisse und zentralen Kernaussagen aus dem Projekt?
Florian D. Schneider: Die Erkenntnis war überraschend, dass Personen, die auf einer intellektuellen Ebene mehr über Natur in der Stadt wissen, diese bisweilen weniger emotional wahrnehmen. Es scheint eine Korrelation zwischen Wissen und Wahrnehmung der Natur zu geben. Das heißt, je mehr Wissen vorhanden ist, desto mehr wird differenziert geschaut und umso mehr kann man benennen was man sieht, aber gleichzeitig wird die Natur weniger auf der Gefühlsebene beschrieben. Das Wissen über Natur bestimmt also stark, wie Natur erlebt wird.
Auch gab es spannende Aussagen zum Gesundheitsaspekt. Die Stadtnatur dient vielen Menschen zur Stressreduktion und Fitness. Wir bekamen sehr persönliche Einsichten, zum Beispiel über die Bedeutung eines öffentlichen Parks für den Umgang mit Depressionen. Die Menschen haben zu Orten sehr persönliche Beziehungen, beispielsweise eine Parkbank oder ein botanischer Garten, wo jemand immer wieder hingeht. Es ist sehr beeindruckend, wie wichtig ein bestimmter Ort in der Natur in der Stadt für einen Menschen sein kann.
„Und hier vorne rechts kommt jetzt ein dicker Baumstamm. Wenn es trocken ist, setze ich mich da auch mal hin und lasse einfach mal… Man kann sagen, das ist einmal so Volltanken für die Seele und stabil durch den Alltag. Schon schön.“O-Ton eines Interviewteilnehmers, © 2021 ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung |
NeFo: Wie geht es jetzt weiter mit den Forschungsergebnissen?
Florian D. Schneider: Das sind jetzt nur einige Anekdoten. Die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen. Wenn wir alle Ergebnisse ausgewertet haben, möchten wir den Bürger*innen in Frankfurt diese zurückgeben. Dafür denken wir über die Verwendung neuer Medienformate nach, wie einen Podcast oder Audiowalk mit den O-Tönen.
NeFo: Wie kann man mit diesem Unterschied der Wahrnehmung von Stadtnatur (intuitiver und emotionaler Zugang vs. „vermittelter“ und intellektueller Zugang zur Natur) umgehen? Und was bedeutet das für den Biodiversitätsschutz?
Florian D. Schneider: Diese unterschiedliche Wahrnehmung ist nicht nur von dem sozialen Milieu und der Bildung abhängig, sondern von vielen Faktoren, wie auch Unterschiede in der Persönlichkeit. Es braucht zielgruppenspezifische Strategien und es müssen vielfältige Angebote geschaffen werden. Die Umweltbildung und ein wissensbasierter Zugang zur Natur sollten weiterhin bestehen, aber das allein reicht nicht aus. Es werden unterschiedliche Ansätze benötigt, insbesondere um auch einen emotionalen Zugang zu ermöglichen. Es geht einerseits um das Wissen über Natur wie beispielsweise einzelne Vogelarten, aber vor allem auch um das Erfahren und Erleben von Natur. Wichtig ist darum, dass Erlebnisräume geschaffen werden.NeFo: Was ist Ihr Wunsch an die Politik für einen sozial-ökologischen Wandel?
Florian D. Schneider: Der Blick auf die lokalen Gegebenheiten ist ganz wichtig. Politik arbeitet aber häufig auf übergeordneter konzeptioneller Ebene. Ein enormes Potential liegt auf lokalen Entscheidungen und Initiativen. Mein Wunsch ist es, Lösungen auf der kleineren, lokalen Ebene zu suchen und zu finden. Hierfür sind Ermächtigung, Dialoge und das Mitmachen wichtig. So kann eine kleinteilige Diversität entstehen. Viele eigene, kleine Lösungen vor Ort sind gut für die Biodiversität, aber auch für die Menschen. Sie steigern die Verantwortung und Lebensqualität, auch durch ein soziales Gefüge. Es fehlt an Unterstützung und Mitteln für solche Prozesse durch die Politik. Zudem gibt es hohe Unsicherheiten für lokale Initiativen, zum Beispiel Urban Gardening-Projekte auf Brachen oder Kleingartenvereine stehen in starker Flächenkonkurrenz und müssen verschwinden, wenn gebaut werden soll. Es sollte umgekehrt sein: Versiegelte Flächen sollten auch öfters an Initiativen überführt werden, so dass dort Urban Gardening-Projekte, Gärten oder Naturflächen entstehen.
Der Interviewpartner Dr. Florian Dirk Schneider ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISOE im Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung. Er forscht zur Integration von wissenschaftlichem Wissen um Biodiversität in gesellschaftliche Diskurse und Entscheidungsprozesse.
Das ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung mit Sitz in Frankfurt ist ein unabhängiges Institut für Nachhaltigkeitsforschung. Am ISOE werden wissenschaftliche Grundlagen und zukunftsfähige Konzepte für Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene entwickelt. Das Arbeitsspektrum reicht von grundlagen- bis beratungsorientierter Forschung. Dabei verbinden sie natur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen ebenso konsequent wie Wissenschaft und Gesellschaft.
Lesetipp:
Wir leben mit und von der Natur, und sie mit uns. Diese enge Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft sollte uns viel bewusster sein - um sie dann bewusst gestalten zu können, sagen Forscher*innen am ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt. Biodiversitätsschutz kann mit einer Gesellschaft gelingen, die die Biodiversität - ähnlich einem Lebenspartner - in allen Handlungsräumen wertschätzt. Dieses neue Verständnis sollten die Vertreterinnen und Vertreter unserer Regierungen bei der (Neu-)Formulierung politischer Ziele zur Erhaltung der biologischen Vielfalt berücksichtigen.
Weiterlesen im...
Themenschwerpunkt: Beziehungskrise zwischen Mensch und Natur