- Gastbeitrag Juli 2021 -

Europa ist nicht die Welt

Ein Kommentar von Christine von Weizsäcker

EU will Vorreiterin in den globalen Verhandlungen zur Biodiversitätspolitik bei der Vertragsstaatenkonferenz COP-15 in Kunming werden. Kann sie das? Und wenn ja, wie?

Die Europäische Gemeinschaft hat viel Vorbildliches auf den Weg gebracht. Da sind die Revisionen der Erneuerbare-Energien-Richtlinie zu nennen, der Green Deal, die Biodiversitäts-Strategie, die WTO-Initiative für ein Globales Übereinkommen für ein Verbot von Zuschüssen für Schaden verursachende Fischerei, die Erforschung der Auswirkungen von Tiefseebergbau, das Augenmerk für die Bedeutung von Bodenökosystemen, die Stärkung des Rechtsrahmens und Schließung von Umsetzungs- und Regulierungslücken, die Nennung des Vorsorgeprinzips und das Verursacherprinzips, die Stärkung der Mechanismen für Folgenabschätzung, Überwachung und Überprüfung, die Verdopplung der biodiversitätsbezogenen Finanzströme in Entwicklungsländer, die gemeinsame Stärkung von Biodiversität und Menschenrechten, was den immer noch schwelenden Konflikt zwischen Naturschutz und Wahrung der Rechte indigener Völker und lokaler Gemeinschaften auflösen könnte. Das ist dem unermüdlichen Einsatz vieler Akteure auf vielen Ebenen zu verdanken.

Doch wie sieht es bei internationalen Verhandlungen mit den 196 Vertragsstaaten des Übereinkommens über biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) aus? Außer den USA und dem Vatikan sind hier alle Staaten vertreten – sehr unterschiedliche: Große und winzige, reiche und arme, biodiversitätsreiche und biodiversitätsarme, industrielle und agrarisch geprägte, rechtsstaatlich gefestigte, autoritäre, diktatorische und gescheiterte Staaten, solche mit inneren und äußeren militärischen Konflikten und solche im Frieden. Da wird einiges, das in Europa als selbstverständlich gilt, einer harten Realitätsprüfung unterworfen. Und wie es der Sprecher der Afrikanischen Region, als er für seine „Vorreiterrolle“ bei Verhandlungen gelobt wurde, sagte: „Ein Vorreiter ist nicht der, der sich selbst dazu erklärt, sondern der, dem die Leute zu folgen beschließen.“

Bei der Gründung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (CBD) beim Erdgipfel in Rio 1992 wurden drei übergreifende Ziele festgelegt: der Schutz der biologischen Vielfalt, ihre nachhaltige Nutzung und die gerechte und faire Verteilung der Vorteile, die aus der Nutzung entstehen. Ein wirkliches Nachhaltigkeitsabkommen also. Ein Problem dabei: nur der Schutz der biologischen Vielfalt liegt im Zuständigkeitsbereich der meisten Umweltministerien. Daher liegt verständlicherweise ein Schwerpunkt auf Schutzgebieten. Bei den anderen Zielen setzt man sich ja einem Ressortgerangel aus.

Entwicklungsländer bestehen in den Verhandlungen regelmäßig darauf, dass alle drei Konventionsziele integriert und gleichwertig behandelt werden. Das dritte Konventionsziel, die gerechte Vorteilsverteilung, wurde viel zu spät im Nagoya Protokoll über Zugang und Vorteilsausgleich zu genetischen Ressourcen bearbeitet. Durch die zunehmende Rolle von digitalen Erbgutsequenzen in Forschung, Entwicklung und Kommerzialisierung gibt es eine dramatische Uneinigkeit zwischen Herkunftsländern und Nutzerländern, wie man damit umgehen sollte. Dies könnte sich zu einem echten Deal-Breaker der Vertragsstaatenverhandlungen entwickeln. Wie will die EU darauf reagieren?

Bisher unter anderem mit dem Ruf nach ambitionierten Zielen und einer Koalition der Willigen. Doch an hohen Ambitionen fehlte es nie wirklich, weder für die Strategie 2000-2010, noch für den Aichi Aktionsplan 2010-2020. Doch beide scheiterten bekanntermaßen fast durchgängig. Es fehlte an der Umsetzung, nicht an den stolz erklärten Ambitionen. Und wie will man vermeiden, dass die gesetzten Ziele vielerorts nur zum Schein umgesetzt werden, dass Europa diese „ambitionierten“ Scheinumsetzungen auch noch finanziert? All das ist mit zu bedenken, wenn Europa nicht nur als naiver Vorreiter modischer, ambitionierter Zielbegriffe auftreten will.
 
Indigene Frau mit Schaf in Peru Laut dem IPBES Global Assessment sind lokale und indigene Gemeinschaften weltweit die flächenmäßig erfolgreichsten Hüter und Nutzer intakter Ökosysteme. Jedoch sind ihre Land- und Ressourcenrechte in vielen Ländern nicht geschützt. Bild: Monica Volpin / Pixabay Ein wesentlicher Kritikpunkt an den bisherigen Verhandlungen ist aus meiner Sicht der Umgang mit indigenen Völkern und den Menschenrechten. Wenn man dem IPBES Global Assessment glaubt, sind sie, die lokalen Gemeinschaften, aber auch Kleinbauern, Hirtenvölker und lokale Fischer, weltweit die flächenmäßig erfolgreichsten Hüter und Nutzer intakter Ökosysteme. Oft sind sie effektiver als offizielle Schutzgebiete, die in Europa und anderswo immer wieder Umnutzungsentscheidungen ausgesetzt sind. Ihre Beiträge werden in den CBD-Verhandlungen unter dem nicht gerade attraktiven Begriff „andere effektive gebietsbasierte Schutzmechanismen (OECMs)“ geführt. Die Hüter dieser „Territories of Life“ haben sich im ICCA Consortium organisiert.

Und da kommen wir zur zentralen Rolle der Menschenrechte. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, als auch das Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und in den letzten Jahren auch die Erklärung über die Rechte Indigener Völker (UNDRIP) und die Erklärung über die Rechte von Bauern und anderen Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten (UNDROP), verabschiedet. Von vorrangiger Wichtigkeit sind gesicherte Land- und Ressourcenrechte, sonst droht Landraub. Beteiligungsrechte an Gutachten und Entscheidungsfindung sind dann die direkte Folge. Stellen Sie sich vor, man beteilige Sie zwar an der Debatte zur Weiterverwendung Ihres Gartens, enthielte Ihnen aber sämtliche Besitz- und Einspruchsrechte vor? So lesen sich in etwa die Beschlussvorlagen, in denen Beteiligungsrechte viel häufiger genannt sind als Landrechte.

Das nun formulierte Ziel der CBD für 2050 „Menschen und Natur in Harmonie” und die Nachhaltigkeitsziele verlangen beide die komplementäre Umsetzung des rechtsbasierten und des Ökosystem-Ansatzes. Und da gerade der Ernährungssystem-Gipfel der Vereinten Nationen stattfindet, sollten auch die Armen genannt werden, deren Leben und Auskommen an direkten, nicht marktbasierten Ökosystemleistungen hängt (siehe auch TEEB Interim Report 2008, Nachhaltigkeitsziele 1 und 2). Sie haben einen Gegengipfel organisiert, der die Abkehr vom herrschenden Ernährungssystem hin zu Ernährungssouveränität und vielfältiger Agrarökologie fordert.

Ein kreativer Vorstoß der Europäischen Union könnte eine Anfrage an das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen sein, mit der Bitte um ein Rechtsgutachten und weiterführende Anregungen zur Umsetzung der Menschenrechte im Entwurf für das Globale Biodiversitäts-Rahmenwerk 2020-2030 der CBD. Vor diesem Hintergrund können auch die Schlagworte „Nettonull-Treibhausgasemissionen“ und „Nettonull Biodiversitätsverlust“ und ihre Einladung zu Ausgleichsmaßnahmen und Ausgleichsflächen in Bezug auf Menschenrechte geprüft werden. Da CO2 von Winden global verteilt wird, lud es zur globalen Bilanzierung ein, die schon einige Kritik einstecken muss. Bei Ökosystemen, die historisch gewachsen und lokal verankert sind, zeigen sich die Schwächen dieser Ansätze noch offensichtlicher. Die versprochenen Ausgleichsmaßnahmen werden häufig nicht eingehalten, und wirklich funktionierende, resiliente Ökosysteme brauchen für ihre Entstehung so viel Zeit, wie wir sie wahrscheinlich nicht haben. Und was ist mit den Menschen, die dort wohnen? Eine Ausgleichsfläche im Nachbargarten würde uns auch nicht wirklich nützen. Die Rechte der lokalen Bevölkerung sind in vielen Ländern nicht geschützt.

Biodiversitätsreiche Entwicklungsländer sind tief verschuldet und werden um jeden Dollar und Euro in der Staatskasse kämpfen. Das ist die eine Realität der Verhandlung. Andererseits haben sie auch den Anspruch, nicht immer nur als inkompetente hilfsbedürftige Empfänger dazustehen. Sie sind auch Geberländer in Bezug auf genetische Ressourcen, Klimaschutz, Erhaltung gesunder Böden und damit gesunder Ökosysteme, natürlich, teilgenutzt oder genutzt. Tief verschuldete Länder sind erpressbar. Europa muss aufpassen, nicht als Erpresser, Prüfinstitut oder Oberlehrer wahrgenommen zu werden. Nur mit der Achtung vor den Themen anderer Vertragsstaaten und Vertragsstaatengruppen können die Verhandlungen glücken.

Natürlich ist Europa in einer Zwickmühle, denn es konkurriert wirtschaftlich mit Staaten wie den USA, die als Nichtvertragsstaat nicht an die Regeln der Konvention gebunden sind. Und da sind dann noch mächtige Staaten wie China, Indien und Brasilien, die autoritär und/oder mit hoher Korruptionsanfälligkeit geführt werden und die innerhalb von G77, der Gruppe der Entwicklungsländer, tonangebend sind und darüber hinaus den Vorteil haben, nicht mit dem Makel ehemaliger Kolonialmächte gezeichnet zu sein.

Und schließlich sind da noch die vielen ungelösten Probleme der Finanzierung. Dazu nur kurz: Die globale Finanzierung für Biodiversität hat stark zugenommen und wird auf zwischen 78 und 147 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt. Die Finanzierung der Treiber des Biodiversitätsverlust ist dagegen leider sehr viel größer, geschätzt auf zwischen 500 Milliarden und mehreren Billionen Dollar pro Jahr. Ein Bleifuß auf dem Gaspedal der Biodiversitätszerstörung bei leicht angezogener Handbremse – das ist wohl einer der wesentlichen Gründe, warum es mit den schönen Zehnjahresplänen bisher nicht klappt.

Es gibt allerdings Normungsorganisationen, deren Normen für menschliche Gesundheit (WHO), Pflanzen- (SPS) und Tiergesundheit (OIE) anerkannt werden. Höchste Zeit, dass Normungsorganisationen für Klimamaßnahmen und Biodiversitätsmaßnahmen eingerichtet werden, denn auch die planetare Gesundheit sollte ohne Handelsstrafen von der WHO schützbar werden. Das wäre auch eine mögliche Initiative der Europäischen Gemeinschaft, die auf den Zuspruch von vielen Ländern und sozialen Gruppen rechnen könnte. Die EU hat viele Möglichkeiten, Weichen zu stellen, sie muss es nur wollen.



Christine von Weizsäcker
Christine von Weizsäcker (Bild: privat)

 Die Biologin Christine von Weizsäcker nimmt an den CBD-Verhandlungen seit ihrer Gründung 1992 in Rio teil. Sie ist Präsidentin von Ecoropa, einem europäischen Netzwerk, das sich seit den 70er-Jahren für Ökologie, Demokratie und Nord-Süd-Gerechtigkeit einsetzt. Lange Jahre war sie im Vorstand der CBD-Alliance, dem weltweiten Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen, die den Verhandlungen des Übereinkommens über biologische Vielfalt folgen, sowie im Vorstand der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Von allen Auszeichnungen hat sie sich besonders gefreut über die Würdigungsurkunde des Netzwerks Indigener Frauen für Biodiversität.