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„Wir müssen eine grundlagenorientierte Ökotoxikologie entwickeln!“

Interview mit PD Dr. Rolf Altenburger (UFZ), Sprecher des UFZ-Kernthemas „Chemikalien in der Umwelt“. Zu dem Kernthema erscheinen hier im monatlichem Rhythmus neue Beiträge, die unterschiedliche Aspekte und Perspektiven beleuchten werden.
Die Fragen im Interview stellte Erich Wittenberg.

Herr Dr. Altenburger, vor 30 bis 40 Jahren wurden Gewässer, Böden und Luft erheblich stärker durch Chemikalien belastet als heute. Laut Wasserrahmenrichtlinie haben immerhin mittlerweile 90 % der Gewässer in Deutschland einen guten chemischen Zustand. Warum ist dann die Forschung zu Chemikalien in der Umwelt relevant und ein Forschungsschwerpunkt am UFZ?

PD Dr. Rolf Altenburger PD Dr. Rolf Altenburger, Ökotoxikologe und Sprecher des UFZ-Kernthemas „Chemikalien in der Umwelt“
Foto: André Künzelmann/UFZ
Es ist richtig, dass sich in den letzten 30 bis 40 Jahren der Gewässerzustand verbessert hat, vor allem wenn man leicht abbaubare organische Substanzen oder auch Phosphat betrachtet, die vor 30 bis 40 Jahren das Hauptproblem dargestellt haben. Denken Sie zum Beispiel an die Schaumberge, die wir auf den Flüssen zu der Zeit hatten. Das waren im Wesentlichen Belastungen, die aus kommunalen Kläranlagen kamen, und die hat man mittlerweile gut in den Griff gekriegt. Allerdings reden wir heute über Mikrokontaminanten, also Chemikalien, die schädlich wirken aufgrund ihrer Toxizität und nicht als Nährstoffe zu unerwünschten Effekten etwa durch Sauerstoffverarmung führen. Wenn Sie sagen, der Zustand entsprechend der aktuellen Wasserrahmenrichtlinie wird chemisch als gut bezeichnet, dann stimmt auch das, bezieht sich aber ausschließlich auf die sogenannten „priority pollutants“, also Wasserkontaminanten, die man für das chemische Monitoring als Priorität vorgesehen hat. Mit rund 40 verschiedenen Substanzen geht es um eine sehr begrenzte Anzahl von Stoffen und es handelt sich um alte Stoffe, die wirtschaftlich kaum eine Rolle mehr spielen. Im Gegensatz zum chemischen Zustand ist gleichzeitig festzustellen, dass nach der Wasserrahmenrichtlinie heutzutage zwei Drittel aller Gewässer den guten ökologischen Zustand, der angestrebt wird, nicht erreichen werden. Woran das liegt, weiß man derzeit nicht. Eine der Hypothesen unserer Forschung ist, dass es bei den Tausenden, wenn nicht Millionen von Stoffen, die in Mikromengen in die Gewässer gelangen erst zu identifizieren ist, welche davon möglicherweise subtilere aber dennoch nachhaltigere Effekte als das früher häufiger beobachtete Fischsterben hervorrufen können.


Welche Chemikalien bzw. Stoffgruppen stehen derzeit im Fokus der Forschung, weil sie besonders starke Auswirkungen auf die Umwelt haben?

Wir müssen feststellen, dass man chemisch analytisch in jedem Gewässer und in jedem Sediment eine Vielzahl von Stoffen detektieren kann, die von menschlichen Aktivitäten herrühren. Die Frage, ob ein Stoff nun schädliche Auswirkungen hervorruft, ist nicht durch den Nachweis des Auftretens in der Umwelt beantwortet, vielmehr bedarf es dazu zusätzlicher biologischer Informationen. Vor einigen Jahren stellten Forscher beispielsweise fest, dass das Verhältnis von männlichen und weiblichen Fischen europaweit in verschiedenen Fischpopulationen durch östrogenartige Verbindungen, also hormonähnlich wirkende Stoffe, beeinflusst ist. Das ist insofern überraschend, als man erstens natürlich nicht Pharmaka entwickelt, um damit Fische zu beeinflussen und zweitens diese Stoffe nur in äußerst geringen Mengen in die Umwelt gelangen. Dabei geht es lediglich um wenige Kilogramm pro Jahr. Aber diese winzigen Mengen führen in den Gewässern dennoch zu biologischen Wirkungen. Das zeigt, dass es nicht reicht beliebige Stoffe analytisch in der Umwelt nachzuweisen um von Schadstoffen zu sprechen, sondern dass wir mehr Grundverständnis zu den Wechselwirkungen zwischen Chemikalien und Biosystemen oder wie wir sagen zu Exposition und Wirkung benötigen .

Chemische Produkte und Substanzen entwickeln sich immer weiter und das in einer immer schneller werdenden Geschwindigkeit. Wie kann die ökotoxikologische Forschung auf diese immer schnellere Entwicklung von immer neuen Substanzen reagieren?

Medikamente auf Löffel Eine große Anzahl unterschiedlicher Chemikalien gelangen zum Beispiel durch Medikamente und Kosmetika in die Umwelt. Zwar sind die absoluten Mengen gering, sie können jedoch zu erheblichen unerwünschten Auswirkungen führen.
So besagt eine Hypothese in der Wissenschaft, dass viele dieser Umweltchemikalien subtile aber nachhaltige Auswirkungen in Gewässern verursachen. Dadurch erreichen solche Gewässer häufig keinen guten ökologischen Zustand.
Foto: André Künzelmann/UFZ
Wir wären verloren, wenn wir versuchen würden, nur durch zufällige Beobachtung oder durch das Nacharbeiten der Stoffvielfalt und Stoffinnovation der potentiellen Probleme Herr zu werden. Die Fachwissenschaften haben sich historisch zunächst so entwickelt und in Folge haben wir uns in den letzten Jahrzehnten ja fast dran gewöhnt vom ‚Stoff des Monats’ zu hören. Diese Orientierung an Überraschungs- und Unfallgeschichten führt sicher nicht wesentlich weiter. Was wir brauchen, ist erstens ein systematisiertes Verständnis davon, warum Stoffe überhaupt in die Umwelt gelangen, zweitens wie stabil sie dort sind und wie sie sich verteilen, wenn sie in die Umwelt gelangen, drittens welche Möglichkeiten des Managements wir überhaupt haben und viertens welche Stoff- und Systemeigenschaften dazu führen, dass Stoffe in der Umwelt ggf. auch als Mischungen zu unerwünschten schädlichen Auswirkungen führen. Das wesentliche Prinzip dabei ist, dass wir die grundlegenden Mechanismen verstehen. Mechanismen der Wechselwirkung zwischen der Struktur von Chemikalien und dem Funktionieren von Biosystemen, also z.B. Organismen. Anstatt ausschließlich einzelne Phänomene im Freiland beobachten und detektieren zu wollen, sollten wir vielmehr im Labor, in kontrollierbaren Ökosystemausschnitten und mit theoretischen Methoden Vorstellungen und Modelle darüber entwickeln, wie die Interaktionen funktionieren. So können wir zu Verständnis und Vorhersagen und damit auch bei aller Stoffvielfalt zu einer Abschätzung der Gefährdung durch Chemikalien und deren Mischungen kommen, bevor sie in die Umwelt gelangen.


Wohin soll das ganze führen? Dahin, dass die Hersteller von chemischen Substanzen vor der Herstellung überprüfen müssen, welche Auswirkungen eine Substanz in der Umwelt haben könnte?

In der Tat ist das heute schon die politische Vision. Unter dem Stichwort REACH hat die EU als Rechtsanspruch formuliert, dass für jede Chemikalie, die heute vermarktet werden soll, ein Satz an Minimalinformationen hinsichtlich des Umweltverhaltens von Stoffen bereitgestellt werden muss, bevor diese in den Handel gebracht werden. Das sind zunächst einmal nur Minimalinformationen, aber sie bieten uns die Basis, systematisch über Stoffeigenschaften und schädliche Auswirkungen nachzudenken und systematische Einschätzungen vor dem alltäglichem Gebrauch vornehmen zu können.


Welche Bereiche der Umwelt sind denn am stärksten betroffen?

Das kann ich so nicht beantworten, weil es natürlich systematische Unterschiede für verschiedene Stoffe aber auch für verschiedene Schutzziele gibt. Wenn Stoffe aufgrund ihrer Eigenschaften vor allem in die Atmosphäre gelangen, dann haben Sie ganz wesentlich mit dem Problem globaler Verteilung von Stoffen zu kämpfen. Die Atmosphäre kann Stoffe z.B. bis an die Polarregionen bringen und damit chemische Stoffe, die wir hier einsetzen, in Regionen auftreten lassen, wo wir sie nie erwartet hätten. Schauen Sie sich dagegen Böden an, dann sind Bodenkontaminationen mit Chemikalien typischerweise regional begrenzt. Für die Nutzungen, die dort vor Ort vorgesehen sind, kann dies dennoch sehr große Auswirkungen haben und sich als sehr kostenintensiv darstellen, zum Beispiel wenn Sie Sanierung von entsprechenden Böden betreiben müssen.


Welche modernen Ansätze zum Abbau und zur Sanierung gibt es?

Im Gegensatz zu traditionellen „pump and treat-Verfahren“ versuchen beispielsweise moderne Verfahren vor Ort, also in situ, mit möglichst geringem Energieinput und zuerst vielleicht mittels mikrobieller Techniken Sanierung beziehungsweise Schadstoffabbau zu betreiben. Modern wäre auch - wenn man weit vorausschaut -, dass man Nanopartikel für den Abbau von Chemikalien einsetzt. Sie lassen sich mit katalytischen Fähigkeiten ausstatten und können dann Schadstoffe chemisch abbauen helfen. Das wäre ein modernes Verfahren, das natürlich noch mit erheblichem Forschungsbedarf verbunden ist. Sanierung ist allerdings nicht immer ein Problem der Entwicklung von neuen Techniken, sondern vielfach ein Problem, das vorhandene Ideen vom Labormaßstab in einen Feldmaßstab übertragen werden. Niemand, insbesondere nicht Problemeigner, die mit kontaminierten Flächen, Grundwassern oder Gewässern zu tun haben, will erstmalig eine neue Technologie ausprobieren. Jeder möchte den erprobten und funktionierenden VW kaufen.


Sie haben Nanopartikel als mögliches Mittel zur Sanierung angesprochen. Treibt man den Teufel nicht mit dem Beelzebub aus, wenn man Chemie mit Chemie bekämpft? 

Nein, ganz bestimmt nicht. Richtig ist natürlich, dass wir vorsichtig sein müssen, einfach schlichten Euphorien und Behauptungen aufzusitzen. Nanopartikel sind deswegen interessant geworden, weil sie als kleine Partikel besondere physikalisch chemische Eigenschaften haben, die sie interessant machen für technische Anwendungen. Denken Sie an die vergrößerten Oberflächen, die wir hier erzielen. Richtig ist natürlich auch, dass Gefährdungspotenziale, wie sie bei allen Chemikalien auftreten können, abgeschätzt werden müssen. Bevor wir in offene Umweltanwendungen mit Nanopartikeln gehen, brauchen wir geeignete Methoden, um solche potenziellen Gefährdungen zu erkennen und zu beschreiben.


Nanopartikel finden sich jetzt auch immer häufiger in Alltagsprodukten wieder, beispielsweise in Textilien oder Kosmetik. Überwiegt das Risiko oder das Potenzial der Nanopartikel im Hinblick darauf, dass diese Substanzen auch wieder in die Umwelt gelangen?

Das lässt sich im Moment nicht ernsthaft beantworten, weil wir über das Verhalten von Nanopartikeln in der Umwelt noch viel zu wenig wissen. Es ist darüber hinaus methodisch aufwändig und schwierig das Schicksal von Nanopartikeln in der Umwelt zu beschreiben. Wir haben sehr viele Nanopartikel natürlichen Ursprungs in der Umwelt, und nun ist die Herausforderung die wiederzufinden, die aufgrund technischer Anwendungen dort hingelangen. Das ist ein analytisches Problem. Weitere Schwierigkeiten sind darin begründet, dass Sie es ja mit Partikeln und nicht mit gelösten Stoffen zu tun haben. Das macht alle etablierten Verfahren für Risikoabschätzung anpassungsbedürftig, und genau in diesem Schritt sind wir derzeit. Das heißt, solch eine Abschätzung ist schwierig, wie es zusätzlich auch schwierig ist, Nutzen gegen Risiko abzuwägen. Da braucht es auch Kriterien die die Gesellschaft zu liefern hat indem sie sagt, welche Risiken man bereit ist für welchen Nutzen in Kauf zu nehmen.


Wie könnte man einer Gefährdung durch Nanopartikel vorbeugen, wenn ihre Eigenschaften noch gar nicht wirklich bekannt sind? 

Es gibt in diesem Bereich recht vielversprechende, elegante Ansätze. So lasssen sich beispielsweise Nanopartikel mit magnetische Eigenschaften ausstatten die in der Abwasserreinigung eingesetzt werden könnten. Sie brauchen dann am Abfluss einer Reinigungskammer lediglich einen Magneten, und Ihre Nanopartikel sammeln sich dort aufgrund ihrer magnetischen Eigenschaften. Dann erzeugen Sie eine zumindest stark reduzierte Emission in die Umwelt.


Herr Altenburger, Sie sind seit über 20 Jahren in dem Bereich der Ökotoxikologie tätig. Wo sehen Sie persönlich die größten Herausforderungen für die Zukunft, was das Thema Chemikalien in der Umwelt anbelangt?

Die größte Herausforderung ist aus meiner Sicht, Forschung in der Umweltchemie und Ökotoxikologie nicht nur beschreibend zu betreiben, damit der Vielzahl der Stoffe nicht nur eine Vielzahl von Beobachtungen entgegengetzt wird. Wir müssen eine grundlagenorientierte Umweltchemie und Ökotoxikologie entwickeln, die Mechanismen entdeckt, versteht und zur Nutzung führt. Das ist eine Herausforderung, die sich vor allen Dingen auch an Geldgeber wendet, weil das Studium des Umweltverhaltens von Chemikalien hauptsächlich als Kostenfaktor wahrgenommen wird. Geld ist daher immer dann verfügbar, wenn wieder unerwünschte Überraschungen oder Katastrophen aufgetreten sind. Dies ist kontraproduktiv für den Anspruch, systematisches Wissen zu erzeugen mit dem Chemikalien schon in ihrer Entwicklung umweltgerechter gemacht werden und damit schädlichen Wirkungen vorgebeugt wird, bevor sie in der Umwelt tatsächlich auftreten können.