Pressemitteilung vom 9. Oktober 2008

Was die Abwehr der Zellen zum Bröckeln bringt

Umweltchemikalien können die Giftstoffbarriere von Muscheln knacken

Leipzig. Deutsche und amerikanische Forscher haben in Miesmuscheln erstmals vollständige Gensequenzen und die Funktion von zwei Proteinen identifiziert, die eine wichtige Abwehrfunktion gegen Umweltgifte haben. Diese Proteine sind Teil einer aktiven, physiologischen Barriere in den Muschelkiemen, die vor Umweltgiften schützt, schreiben Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) und der Kalifornischen Stanford University im Fachblatt American Journal of Physiology - Regulatory, Integrative and Comparative Physiology. Muscheln wie die Kalifornische Miesmuschel (Mytilus californianus) können über 20 Liter Wasser pro Stunde durch ihre Kiemen pumpen. Die aktive Barriere schützt den Organismus vor schädlichen Substanzen im Wasser. Es gab vorher bereits Hinweise auf die Anwesenheit solcher Proteine in Muschelkiemen, eine genaue Zuordnung ist aber erst jetzt möglich. Die Funktion dieser Proteine kann durch vom Menschen in die Umwelt eingebrachte Chemikalien, wie z.B. dem in Hygiene- und Pflegemitteln enthaltenen Duftstoff Galaxolid gehemmt werden. Solche Substanzen wirken so in Zellen als Türöffner für andere Chemikalien. Auch nach konventionellen Maßstäben ungiftige Stoffe können durch diesen Effekt die toxische Wirkung von Substanzen verstärken. Über die globalen Auswirkungen von diesen so genannten Chemosensitizern auf Umwelt und Mensch ist bisher wenig bekannt.

Kalifornischen Miesmuschel (Mytilus californianus)

In Muscheln wie der Kalifornischen Miesmuschel (Mytilus californianus)wirken sogenannte MXR-Proteine der Anreicherung von Fremdstoffen aus dem Wasser im Gewebe entgegen. Als sogenannte Chemosensitizer können auch Umweltchemikalien diese molekularen Pumpen außer Gefecht setzen.
Foto: Till Luckenbach/UFZ

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Die Monteray-Buch südlich von San Francisco

Die renommierte Hopkins Marine Station liegt an der Monterey-Bucht südlich von San Francisco. Das Institut ist die älteste meeresbiologische Forschungsstation der US-Westküste und gehört zur kalifornischen Stanford Universität.
Foto: Till Luckenbach/UFZ

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Nutzungsbedingungen Bildmaterial

Grafik: Das Prinzip der Zellabwehr und die Blockade durch Chemosensitizer

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Linke Zelle: Die Zellabwehr funktioniert. Der MXR-Transporter pumpt mögliche giftige Stoffe wieder aus der Zelle hinaus.
Rechte Zelle: Die Zellabwehr ist durch Chemosensitizer gestört. Sie blockieren den Transporter. Die Folge: schädliche Substanzen können nicht abgepumpt werden und reichern sich in der Zelle an.
Quelle: UFZ

Zellen besitzen Mechanismen, die es ihnen ermöglichen, mit schädlichen Substanzen umzugehen und zu überleben. Ein solcher Schutzmechanismus wird zum Beispiel durch Transportproteine gebildet, die in der Zellmembran sitzen und als molekulare „Pumpen“ verhindern, dass sich toxische Verbindungen in der Zelle anreichern. Dieser Abwehrmechanismus gegen giftige Chemikalien wird in der englischen Fachliteratur multixenobiotic resistance (MXR) genannt. Substanzen, die den MXR-Mechanismus hemmen, werden als Chemosensitizer bezeichnet.
Die beiden neu entdeckten Proteine gehören zu den so genannten ABC-Transportern. Diese Klasse von Membranproteinen ist nach einem gemeinsamen Strukturelement benannt: der ATP-bindenden Kassette (von englisch: ATP binding cassette, ABC). ABC-Transporter sind eine der größten bekannten Proteinfamilien, die in Organismen vom Bakterium bis hin zu Säugetieren vorkommen. Beim Menschen sind ähnliche Proteine an der Blut-Hirn-Schranke beteiligt. Hier verhindern sie das Eindringen schädlicher Stoffe ins empfindliche Nervengewebe. Bei Muscheln und anderen Wasserorganismen trennt diese Barriere nicht verschiedene Teile eines Organismus, sondern ist nach außen gerichtet. Sie bildet sozusagen eine „Umwelt-Gewebe-Schranke“. „Die Proteine sitzen in der Zellmembran und sorgen dafür, dass Stoffe, die nicht in die Zelle hineingehören, wieder heraustransportiert werden – ähnlich wie bei einer Pumpe, die eindringendes Wasser aus einem Schiff abpumpt“, erklärt Dr. Till Luckenbach vom UFZ.

Mögliche Effekte von Umweltchemikalien auf das MXR-System wurden erstmalig vor fast 20 Jahren beschrieben. Aber erst in den letzten Jahren begann die Wissenschaft, solche Wirkungen intensiver zu untersuchen. „Wir wollen das System verstehen, um herauszufinden, wie Chemikalien mit diesen Transportern interagieren“, sagt Luckenbach, der in Kalifornien an der Hopkins Marine Station der Stanford University mit Untersuchungen an Miesmuscheln begann und seine Arbeiten in Leipzig am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung an Fisch- und Säugerzellen fortsetzt. „Bisher sind vergleichsweise wenige umweltrelevante Substanzen bekannt, die über die Blockierung des MXR-Systems diese Sensibilisierung für Chemikalien auslösen. Allerdings gehören die bekannten Substanzen zu chemisch sehr unterschiedlichen Gruppen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Interaktionen von Umweltsubstanzen mit dem System recht weit verbreitet sind.“ Bisher werden Chemikalien bei der Zulassung auf ihre Gefahren wie Giftigkeit, erbgutverändernde oder krebserzeugende Wirkungen untersucht. Die Sensibilisierungswirkung von bestimmten Stoffen für andere Chemikalien – von den Wissenschaftlern Chemosensitizer genannt – spielt in der aktuellen Gesetzgebung momentan keine Rolle. Till Luckenbach und seine Kollegen sind jedoch überzeugt, dass diese Stoffe großen Einfluss auf die Umwelt haben und es wichtig ist, mehr über diese Prozesse herauszufinden.
Tilo Arnhold

Mehr zu diesem Thema lesen Sie in der Oktober-Ausgabe des UFZ-Newsletters
http://www.ufz.de/index.php?de=10690

Publikationen

Luckenbach, T., Epel, D., (2008):
ABCB and ABCC type transporters confer multixenobiotic resistance and form an environment-tissue barrier in bivalve gills. American Journal of Physiology - Regulatory, Integrative and Comparative Physiology, 294(6):R1919-29.
doi:10.1152/ajpregu.00563.2007
http://ajpregu.physiology.org/cgi/content/abstract/294/6/R1919
Die Untersuchungen wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem National Sea Grant College Program des US Department of Commerce (National Oceanic and Atmospheric Administration) und der California State Resources Agency gefördert.

Epel D., Luckenbach T., Stevenson C.N., MacManus-Spencer L.A., Hamdoun A., Smital T., (2008):
Efflux transporters: newly appreciated roles in protection against pollutants. Environmental Science & Technology, 42(11):3914-3920.
http://pubs.acs.org/subscribe/journals/esthag/42/i11/html/060108feature_epel.html
Die Untersuchungen wurden der National Science Foundation (NSF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

Weitere fachliche Informationen:

über:
Dr. Till Luckenbach
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Telefon: +49 341 235-1514
Dr. Till Luckenbach

und

Prof. David Epel
Hopkins Marine Station, Stanford University
Tel. +1-(831) 655-6226
Prof. David Epel

oder über

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ
Pressestelle
Tilo Arnhold (UFZ-Pressestelle)
Telefon: +49 (0)341 235 1269
presse@ufz.de

Weiterführende Links:

Zelltoxilkologie am UFZ:
http://www.ufz.de/index.php?de=2821

Hopkins Marine Station of Stanford University
www-marine.stanford.edu
www.stanford.edu/~depel

Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ wurde 1991 gegründet und beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle/S. und Magdeburg rund 900 Mitarbeiter. Es erforscht die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt in genutzten und gestörten Landschaften, insbesondere dicht besiedelten städtischen und industriellen Ballungsräumen sowie naturnahen Landschaften. Die Wissenschaftler des UFZ entwickeln Konzepte und Verfahren, die helfen sollen, die natürlichen Lebensgrundlagen für nachfolgende Generationen zu sichern.
Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit 25.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 15 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 2,3 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des großen Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).