Pressemitteilung vom 20. Dezember 2010

Globalisierung belastet kommende Generationen mit biologischen Invasionen

Wie beim Klimawandel zeigen sich auch bei biologischen Invasionen die Folgen mitunter erst ein Jahrhundert später

Washington/Wien/Leipzig. Die Langzeitwirkungen von gebietsfremden Tier- und Pflanzenarten auf die biologische Vielfalt und die Wirtschaft könnten größer sein als bisher angenommen. Das schließt ein internationales Wissenschaftlerteam aus dem Vergleich der Verbreitung invasiver Arten mit der sozialen und ökonomischen Entwicklung in Europa. Daten von 1900 waren für die Vorhersage, ob sich gebietsfremde Arten invasionsartig ausbreiten und zu einem Problem werden können, geeigneter als Daten von 2000. Dabei waren die meisten der problematischen Arten in Europa erst in den letzten Jahrzehnten eingeführt worden. Offenbar werden die ökologischen Folgen der Globalisierung - ähnlich wie beim Klimawandel - erst ein Jahrhundert später deutlich. Die EU-Strategie zur Bekämpfung biologischer Invasionen müsse daher nicht nur jene Arten umfassen, die bereits in Europa zum Problem geworden sind, sondern auch die künftige Einschleppung solcher Arten verhindern, die sich auf anderen Kontinenten invasionsartig ausbreiten, schreiben die Forscher im Fachblatt PNAS.

Waschbär auf Baum

Der Waschbär (Procyon lotor) ist ursprünglich in Nordamerika heimisch. Ausgesetzt oder aus Gehegen entkommen, breitet er sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Neozoon auch in Europa, Japan und dem Kaukasus aus. Das nachtaktive Raubtier lebt bevorzugt in gewässerreichen Laub- und Mischwäldern. Dank seiner Anpassungsfähigkeit fühlt er sich zunehmend in urbanen Gebieten wohl. Seinen Namen verdankt der Waschbär der englischen Bezeichnung raccoon, was so viel wie "der mit seinen Händen reibt, schrubbt und kratzt" bedeutet.
Foto: André Künzelmann/UFZ

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Ambrosie

Die Beifuß-Ambrosie (Ambrosia artemisiifolia) stammt ursprünglich aus Nordamerika und hat sich bereits in weiten Teilen Europas ausgebreitet. Ihre Pollen zählen zu den aggressivsten Allergie-Auslösern.
Foto: Klaus-Dieter Sonntag/ fotoplusdesign.de

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Bereits vor einem halben Jahr hatten die Forscher im selben Fachblatt eine Studie veröffentlicht, wonach der gestiegene Wohlstand und eine gewachsene Bevölkerung, die zu einem Anstieg des internationalen Handels geführt haben, die stärksten Triebkräfte für die Ausbreitung gebietsfremder Tier- und Pflanzenarten in Europa sind. Solche invasive Arten können Ökosysteme stören und verschiedenste Schäden in Natur und Landwirtschaft hervorrufen. Die Kosten der durch die Globalisierung verbreiteten Arten lassen sich bisher nur ansatzweise abschätzen: In Europa verursachen gebietsfremde Tier- und Pflanzenarten jährliche Kosten von mindestens 12 Milliarden Euro. Die Beifuß-Ambrosie (Ambrosia artemisiifolia), eine Allergien auslösende Pflanze, verlängert beispielsweise die Pollensaison und kostet damit das Gesundheitssystem in Deutschland jährlich 1300 bis 2100 Euro pro Pollenallergiepatient, so Ergebnisse aus dem INVASIONS-Projekt von 2010.

Für die jüngste Studie hatten die Forscher Daten der DAISIE-Datenbank über gebietsfremde Tier- und Pflanzenarten in Europa ausgewertet. Über 200 Forscher hatten im EU-Projekt DAISIE (Delivering Alien Invasive Species Inventories for Europe; www.europe-aliens.org) in den vergangenen Jahren zum ersten Mal für die Länder Europas alle bekannten gebietsfremden Arten erfasst. Über 11.000 Arten wurden dabei insgesamt in Europa erfasst. Am Projekt waren Forschungseinrichtungen und Organisationen aus 15 Nationen beteiligt, darunter auch das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Für die jetzt publizierte Studie wurden nur Arten ausgewertet, die nach 1500 eingeführt und sich in Europa eingebürgert haben.

Die starken politischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts führten dazu, dass es an historischen sozio-ökonomischen Daten mangelt. Die Forscher haben sich daher auf 28 Länder wie z.B. Deutschland, Österreich und die Schweiz beschränkt, die jedoch repräsentativ für ganz Europa sind. "Wir haben für die Studie den Beginn und das Ende des 20. Jahrhunderts ausgewählt, weil sie in Europa eine Periode markieren, die von Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und wirtschaftlicher Globalisierung geprägt ist und die den Handel revolutioniert hat", erklärt Doz. Dr. Stefan Dullinger von der Universität Wien. "Der Entwicklungsgrad eines Landes beeinflusst nicht nur, wie stark gebietsfremde Arten durch den Welthandel in das Land kommen, sondern auch wie rasch sie sich dort ausbreiten können. Straßen, zerstörte oder zerschnittene Lebensräume sowie eine intensive Landwirtschaft fördern die Ausbreitung invasiver Arten", erläutert Dr. Franz Essl vom Umweltbundesamt in Wien.

"Offenbar reagiert die Natur mit deutlicher Verzögerung und unser Handeln heute hat Auswirkungen auf biologische Invasionen auch in 50 bis 100 Jahren", interpretiert Dr. Ingolf Kühn die Ergebnisse. Der UFZ-Biologe war an der Analyse der Daten beteiligt. "Damit würden wir selbst bei sofortigem effizientem Management invasiver Arten noch für Jahrzehnte eine Zunahme der Invasionen zu erwarten haben. Wir sollten deshalb möglichst schnell anfangen, dieses Problem anzugehen." Die neuen Erkenntnisse deuten also daraufhin, dass das Langzeitrisiko von biologischen Invasionen bisher unterschätzt wurde.
Tilo Arnhold

Die Vereinten Nationen haben 2010 zum Internationalen Jahr der Biologischen Vielfalt erklärt. Ziel ist es, dass Thema biologische Vielfalt mit seinen vielen Facetten stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Mit seiner Expertise trägt das UFZ dazu bei, die Folgen und Ursachen des Biodiversitätsverlustes zu erforschen sowie Handlungsoptionen zu entwickeln. Mehr dazu erfahren Sie unter:

Die Biodiversitätsforschung in Deutschland ist auf zahlreiche Institutionen wie Hochschulen, außeruniversitäre Einrichtungen und Ressortforschung bis hin zu Naturschutzverbänden und Firmen verteilt. Das Netzwerk-Forum zur Biodiversitätsforschung, ein Projekt im Rahmen von DIVERSITAS-Deutschland, möchte der Forschungscommunity deshalb eine gemeinsame institutionsunabhängige Kommunikationsstruktur und -kultur anbieten. Mehr dazu erfahren Sie unter:
www.biodiversity.de

Publikation

Franz Essl, Stefan Dullinger, Wolfgang Rabitsch, Philip E. Hulme, Karl Hülber, Vojtech Jarošík, Ingrid Kleinbauer, Fridolin Krausmann, Ingolf Kühn, Wolfgang Nentwig, Montserrat Vilà, Piero Genovesi, Francesca Gherardi, Anne-Marie-Laure Desprez-Loustau, Alain Roques, and Petr Pyšek (2010):
Socioeconomic legacy yields an invasion debt. - Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), published online early on December 20, 2010
www.pnas.org/content/early/recent
www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1011728108

Weitere Informationen

Dr. Ingolf Kühn, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Telefon: 0345 / 558-5311
Dr. Ingolf Kühn

Doz. Dr. Stefan Dullinger, Universität Wien
Telefon: 0043-1-4277-54379
Dr. Stefan Dullinger

Dr. Franz Essl/ Dr. Wolfgang Rabitsch, Umweltbundesamt Österreich
Telefon: 0043-1-31304-3323

oder

Tilo Arnhold
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
presse@ufz.de
0341-235-1635

Weiterführende Links

Reichtum ist ein größeres Risiko als der Klimawandel - Wohlstand und Bevölkerungsdichte sind entscheidende Faktoren für biologische Invasionen in Europa (Pressemitteilung vom 16. Juni 2010):
www.ufz.de/index.php?de=19723

Europas Pflanzenwelt verarmt - Damit kann die Fähigkeit sinken, auf Umweltveränderungen zu reagieren (Pressemitteilung vom 8. Dezember 2009):
www.ufz.de/index.php?de=19137

Ökologen bringen Preisschilder bei invasiven Arten an - Forschung zeigt Kosten der Schäden an Ökosystemen auf (Pressemitteilung vom 22. April 2009):
www.ufz.de/index.php?de=18001

Anzahl fremder Pflanzen in Europa deutlich gestiegen - Erstmals detaillierter Überblick verfügbar (Pressemitteilung vom 16. September 2008):
www.ufz.de/index.php?de=17176

DAISIE-Datenbank zu gebietsfremden Pflanzen und Tieren in Europa:
www.europe-aliens.org

EU-Strategie zur Bekämpfung invasiver Arten
ec.europa.eu/environment/nature/invasivealien/index_en.htm

Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg über 900 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

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