Pressemitteilung vom 14. Dezember 2005

REACH als Chance für Alternativen zu Tierversuchen nutzen

Intelligente Teststrategien statt sturem Durchtesten nötig

Leipzig. Wissenschaftler fordern eine intelligente Strategie für die umfangreichen Chemikalientests, die bei der Umsetzung der EU-Chemikalienverordnung REACH in den nächsten zwölf Jahren anstehen. Nur durch den Einsatz von alternativen Tests und theoretischen Prüfmethoden sowie die Verknüpfung verschiedener Ansätze und Informationen könne das Ziel, trotz wachsender Zahl von Chemikalientests Tierversuche zu reduzieren, überhaupt erreicht werden. "Wenn das ganze Sortiment von geschätzten 20.000 Stoffen einfach nur stur durchgetestet wird, dann besteht die Gefahr, dass besonders riskante Stoffe erst in zehn Jahren an die Reihe kommen", warnt Prof. Gerrit Schüürmann vom Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle (UFZ) und fügt hinzu, dass es auch darum geht, die vorhandenen Testressourcen optimal einzusetzen.

Der Zebrabärbling

Der Zebrabärbling. Arbeitsgruppen am UFZ arbeiten an Testverfahren mit Fischeiembryonen, die als Altenative zu Chemikalientests an ausgewachsenen Fischen gedacht sind.
Foto: André Künzelmann, UFZ

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Chemikalien in Fischeiern

Im Reagenzglas untersuchen Forscher, wie Chemikalien auf die Embryonen in Fischeiern wirken.
Foto: André Künzelmann, UFZ

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Daphnientests

Mit Hilfe von Daphnientests beurteilen Forscher die Risiken von Chemikalien für Wasserorganismen
Foto: André Künzelmann, UFZ

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Der Mensch in Berührung mit Chemikalien

Der Mensch kommt tagtäglich in Berührung mit Chemikalien, wie durch den Kontakt der Haut mit Textilien.
Foto: André Künzelmann, UFZ

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REACH - zur erfassen des gesamten Lebensweges einer Chemikalie vom Produzenten bis zum Verbraucher

REACH steht für Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien. REACH soll den gesamten Lebensweg einer Chemikalie vom Produzenten bis zum Verbraucher erfassen. Die Registrierung überwacht eine neue Chemikalienagentur der EU in Helsinki.
Foto: André Künzelmann, UFZ

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So ist es zum Beispiel mit neuen Modellen – so genannten QSARs –möglich, potentiell gefährliche Stoffe herauszufiltern. Diese können anschließend mittels alternativer Testverfahren genauer untersucht werden. Das betrifft auch zulassungspflichtige Stoffe, die in geringen Mengen produziert werden und deshalb nicht unter das Standardtestprogramm fallen. Insgesamt gelte es, vorhandene Informationen zusammenzuführen, um den Testumfang auf das tatsächlich notwendige Maß zu begrenzen und unnötiges Mehrfachtesten zu vermeiden. Eine Auflage an die Industrie, nicht wettbewerbsrelevante Daten zu veröffentlichen, könnte aus Sicht der UFZ-Wissenschaftler zusätzlich helfen, Tierversuche zu vermeiden. Experten rechnen momentan mit 1.5 Millionen zusätzlichen Tierversuchen durch die Umsetzung von REACH.

Ziel der Untersuchungen am UFZ ist es, das Standardtestprogramm durch eine intelligente Teststrategie zu ersetzen. Dazu ist es notwendig, Angaben zur Giftigkeit von Stoffen mit weiteren Informationen und der Häufigkeit des Auftretens in der Umwelt zu verknüpfen, um jeweils ein stoffspezifisches maßgeschneidertes Testprogramm zu entwickeln. "Wir wollen so mindestens die gleiche Sicherheit bei verringertem Aufwand und weniger Tierversuchen erreichen", sagt Prof. Gerrit Schüürmann. Das sei aber nur durch eine Kombination verschiedener Komponenten möglich. Dazu zählt beispielsweise die Fokussierung des Testprogramms auf die Bereiche, in denen der jeweilige Stoff vorkommt, das systematische Einbeziehen von Informationen über ähnliche Stoffe und eine stärkere Berücksichtigung von Methoden zur frühzeitigen Analyse möglicher Wirkmechanismen. Als hoffnungsvolle Ansätze, die Vielzahl der für REACH nötigen Tests kostengünstig und mit möglichst wenigen zusätzlichen Tierversuchen in den Griff zu bekommen, gelten sowohl experimentelle in vitro Tests als auch computerbasierte Modelle (QSAR).

"In vitro" als teilweiser Ersatz für Tierversuche

Bisher machen Fische einen relativ geringen Teil der gesamten Tierversuche aus. Doch die Anzahl an Fischtests wird in den nächsten Jahren deutlich steigen, da sie Voraussetzung für die Zulassung von Chemikalien im Rahmen des Chemikalien- und Pflanzenschutzgesetzes sind. Deshalb arbeiten verschiedene Arbeitsgruppen des UFZ an Alternativen zu Experimenten mit adulten Fischen. "In vitro" kommt aus dem Lateinischen und bedeutet "im Glas". Im Reagenzglas können die Forscher untersuchen, wie Chemikalien auf die Embryonen in Fischeiern wirken. Inzwischen ist dieser Test mit den Embryonen von Zebrabärblingen, auch durch die Mitarbeit der Wissenschaftler um Dr. Rolf Altenburger vom UFZ, zumindest in Deutschland als Alternative zum Fischtest bei der Überwachung von Industrieabwässern zugelassen. "Am UFZ wird nun untersucht, ob dieser Test erweitert werden kann", erzählt Dr. Kristin Schirmer. "Im Rahmen des BMBF-Projektes GenDarT untersuchen wir mit Hilfe modernster molekularbiologischer Methoden, ob die Genaktivität im Embryo Vorhersagen für eine chronische Toxizität im Fisch erlaubt".

Ein weiterer Ansatz ist die Analyse von Fischembryoproteinen (Proteomics), um so genannte Biomarker als Anzeiger oder Warnsignal für zu erwartende Effekte zu identifizieren. Derartige Proteinanalysen werden derzeit von Dr. Eberhard Küster in enger Zusammenarbeit mit einer anderen Arbeitsgruppe am UFZ im Rahmen des EU-Projektes PROTECTOR etabliert.
Eine weitere Alternative sind so genannte Zelllinien von Fischen. "Gemeinsam mit kanadischen Wissenschaftlern haben wir zeigen können", so Kristin Schirmer, "dass es eine Korrelation zwischen toxischen Wirkungen auf eine Zelllinie aus den Kiemen und den Gesamtfisch gibt." Anhand solcher Zellkulturen, die repräsentativ für verschiedene Organe des Fisches stehen, lassen sich eine Reihe von Tests durchführen, ohne dass jedes Mal ein Fisch sterben muss.

"Ein Manko ist aus unserer Sicht, dass REACH für Chemikalien, deren Jahresproduktion zwischen 1 und 10 Tonnen liegt, als Risikobeurteilung für Wasserorganismen nur den Daphnientest vorsieht. Erst ab einer höheren Jahresproduktion werden zum Beispiel auch Analysen an Fischen verlangt" erklärt Dr. Eberhard Küster vom UFZ. Dabei werden gerade besonders wirksame Substanzen meist in geringer Menge produziert und fallen damit aus der Beurteilung heraus. "Dabei kann eine einzige Substanz sehr stark in ein Ökosystem eingreifen." Triclosan, ein häufig verwendetes Bakterizid, zeigte in Laborversuchen eine dramatische Verschiebung der Algenpopulationen, die bisher nicht beschrieben wurde. Da Algen am Anfang der Nahrungskette im Wasser stehen kann das wiederum Auswirkungen auf alle Lebewesen haben, die in der Nahrungskette folgen. Standardisierte Algentests nach DIN-Norm dauern je nach Art zwischen 72 Stunden und mehreren Tagen. Die UFZ-Wissenschaftler arbeiten daher an Methoden, die die Testzeiträume verringern bzw. die Anzahl parallel zu untersuchender Proben stark erhöhen ("high-throughput bioassays"). Diese Studien untersuchen sowohl mikroskopisch kleine Algen, große Algenarten wie Armleuchteralgen, aber auch höhere Pflanzen wie Wasserlinsen. Damit werden alle wichtigen pflanzlichen Ebenen eines aquatischen Ökosystems mit einbezogen. Diese Analysen lassen es zu, bis zu 96 Proben wesentlich schneller zu untersuchen als konventionelle Tests. Die Ökotoxikologen hoffen, dass dieser Test später einmal den Standardtest für höhere Wasserpflanzen ersetzt.

Maßgeschneiderte Testprogramme durch QSARs

Mit QSARs (Quantitative or Qualitative Structure-Activity Relationships) – also quantitativen oder qualitativen Struktur-Aktivitäts-Beziehungen – sind Modelle gemeint, die aus der chemischen Struktur eines Stoffes seine Wirkstärke (quantitativ) oder seinen Wirkmechanismus (qualitativ) vorhersagen. Dadurch ist es beispielsweise möglich, auf toxische Eigenschaften zu schließen und so auf Tierversuche zu verzichten. Das Gemeinsame Forschungszentrum der Europäischen Kommission (JRC) will die Aktivitäten zur Etablierung von QSARs deshalb in den kommenden Jahren verstärken. Schließlich schätzt das JRC, dass die Industrie allein durch QSAR-Modelle 740 bis 940 Millionen Euro der ca. 2,4 Milliarden Euro an Testkosten einsparen könnte, die REACH maximal verursachen würde. QSARs sollen helfen, Einzeltests gezielt durchführen zu können, statt umfangreiche Testprogramme absolvieren zu müssen – also ein maßgeschneidertes Testprogramm statt "Schema F". "REACH sieht als ökotoxikologische Eingangsprüfung unter anderem einen Daphnientest vor", erzählt Prof. Gerrit Schüürmann vom UFZ. "Wir haben ein QSAR-Modell entwickelt, dass Entscheidungshilfen gibt zum Erkennen solcher Stoffe, für welche dieser Test und der damit verbundene Aufwand eingespart werden könnten."
Der letzte Entwurf der EU-Chemikalienverordnung REACH sieht vor, dass nur Chemikalien ab einer Jahresproduktion von 100 Tonnen intensiv im Tierversuch getestet werden sollen. Andererseits sollen aber alle Stoffe, die als besonders gefährlich gelten, einer Zulassungspflicht unterliegen. Das betrifft Stoffe, die krebserregend, erbgutverändernd oder fortpflanzungsschädigend wirken; die schwer abbaubar sind, sich im Organismus anreichern und toxisch sind; die sehr schwer abbaubar und sich sehr stark im Organismus anreichern sowie hormonähnlich wirken. QSAR-Modelle können daher helfen, aus zehntausenden Stoffen mit geringer Jahresproduktion diejenigen herauszufiltern, die sehr wahrscheinlich zulassungspflichtig sind und deshalb abschließend im Tierversuch überprüft werden müssen. Die Dänische Umweltbehörde hat beispielsweise QSAR-Analysen für rund 47.000 organische Stoffe auf dem europäischen Markt durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass 20.000 davon ein oder mehrere Kriterien eines Gefahrstoffes erfüllen.
In den USA setzt die Umweltbundesbehörde EPA bereits seit über einem Jahrzehnt QSAR-Modelle ein. In Europa werden solche Prüfmethoden zur Berechnung der Anreicherung von Stoffen in Organismen verwendet. Sie sind aber eher die Ausnahme, da die Behörden bisher zurückhaltend auf QSAR reagiert haben. Gerrit Schüürmann rechnet mit einem Durchbruch in den nächsten drei Jahren: "Es muss uns gelingen, die Stoffe in den Kontext des toxikologischen Wissens zu stellen." Schließlich seien die Ziele von REACH nur durch die Kombination experimenteller Befunde mit alternativen Beurteilungsmethoden wie QSARs zu erreichen.

Die neue EU-Chemikalienverordnung REACH

REACH steht für Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien. Dabei geht es vor allem um die so genannten Altchemikalien, die vor 1981 auf dem Markt gekommen sind. Um die Anzahl der Chemikalien, die künftig geprüft werden, wurde bis zuletzt heftig gerungen. Nach dem letzten Entwurf handelt es sich um etwa 30 000 von geschätzten 100 000 Altchemikalien, die nun zu prüfen sind. Der überwiegende Teil davon gilt als praktisch ungetestet, obwohl die EU-Bürger mit ihnen im Alltag ständig Kontakt haben. "Diese Ungleichbehandlung der so genannten Altstoffe, die als gegeben hingenommen wurden, und der Neustoffe, die stark reglementiert wurden, hat Innovationen gebremst", meint Prof. Bernd Hansjürgens, Ökonom am UFZ. Durch eine Gleichbehandlung will die Gesetzgebung deshalb Anreize für die Industrie schaffen, umwelt- und gesundheitsfreundlichere Stoffe zu entwickeln. In Zukunft dürfen nur noch Stoffe in den Handel gelangen, zu denen ausreichend Daten vorliegen. Von den Prüfungen betroffen sind Chemikalien ab einer Produktionsmenge von einer Tonne pro Jahr. Neu ist auch die Umkehr der Beweislast. Künftig müssen die Unternehmen die Sicherheit ihrer Produkte nachweisen. Bisher konnten Stoffe so lange eingesetzt werden, bis Behörden Beweise für die Gefährlichkeit eines Stoffes hatten. Jetzt müssen die Unternehmen beweisen, dass ein Stoff ungefährlich ist.
REACH soll künftig dafür sorgen, dass der gesamte Lebensweg einer Chemikalie vom Produzenten bis zum Verbraucher erfasst und sicher gestaltet werden kann. Die Registrierung wird von einer neuen EU-Chemikalienagentur in Helsinki überwacht. Diese entscheidet auch im Einzelfall, ob besonders gefährliche Chemikalien eine Zulassung erhalten. Mit einem Abschluss der Prüfungsprozeduren für die so genannten Altchemikalien wird nicht vor 2017 gerechnet.

UFZ-Hintergrundpapier "in vitro Tests"
download Hintergrundpapier

UFZ-Magazin "Chemikalien in der Umwelt"
www.ufz.de/index.php?de=5202<�í!x�í!x

Buchtipp:
Hansjürgens, Bernd; Nordbeck, Ralf:
Chemikalienregulierung und Innovationen zum nachhaltigen Wirtschaften.
�ËIž�ËIžca-Verlag, Heidelberg, 2005
ISBN 3-7908-1597-7

BMBF-Projekt "INNOCHEM":
www.riw-netzwerk.de/projekte/riw_00_02_03.htm

REACH-Seite des Umweltbundesamtes:

Weitere fachliche Information über:

zu alternativen Prüfmethoden ("QSAR"):

Prof. Gerrit Schüürmann
UFZ-Department Chemische Ökotoxikologie
Telefon: 0341-235-2309

zu alternativen Testverfahren:

Dr. Kristin Schirmer
UFZ-Department Zelltoxikologie
Telefon: 0341-235-2699

Dr. Eberhard Küster

UFZ-Department Chemische Ökotoxikologie
Telefon: 0341-235-2675

zur Innovationswirkung von REACH:

Prof. Bernd Hansjürgens
UFZ-Department Ökonomie
Telefon: 0341-235-2517

zum Vorsorgeprinzip im Recht bei REACH:

Prof. Wolfgang Köck
UFZ-Department Umwelt- & Planungsrecht
Telefon: 0341-235-3140

oder über

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ
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