Klimagipfel in Marokko: Entscheidend ist die konkrete Umsetzung

Interview mit UFZ-Klimaökonom Prof. Dr. Reimund Schwarze und UFZ-Politikwissenschaftlerin Dr. Silke Beck

Als „historischen Wendepunkt“ bezeichnete Bundesumweltministerin Barbara Hendricks das Abkommen der Weltklimakonferenz 2015 in Paris. Und tatsächlich ist es die allererste weltweite völkerrechtliche Klimaschutzvereinbarung, die unter anderem die Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad und die Unterstützung der Entwicklungsländer beim Klimaschutz vorsieht. Im April 2016 in New York von 175 Staaten unterzeichnet, wurde es bereits bis Oktober 2016 von 55 Staaten, die mindestens 55 Prozent der weltweiten Emissionen verursachen, national ratifiziert – in weniger als einem Jahr nach Paris und knapp vor der 22. UN-Klimakonferenz, die am 7. November in Marrakesch beginnt.


Foto: Pavillion in den Menara-Gärten von Marrakesch (Credit: Acp, Wikipedia) Foto: Pavillion in den Menara-Gärten von Marrakesch (Credit: Acp, Wikipedia)

Die Ratifikation des Paris-Abkommens in weniger als einem Jahr – das ist ungewöhnlich schnell für ein solches völkerrechtlich verbindliches Abkommen. Hat Sie das überrascht?

Reimund Schwarze: Ja, die schnelle Ratifikation hat mich überrascht. Für das Kyoto-Protokoll brauchte die internationale Staatengemeinschaft immerhin acht Jahre. Die Ratifikation in einem Jahr kann man als Signal nicht nur für die Zustimmung zum Text des Abkommens werten, sondern auch als weitgehende Einigungsbereitschaft der Länder. Sie gibt den Verhandlungen zur Umsetzung eine ganz andere Kraft.

Gibt es überhaupt noch Länder, die nicht mitziehen in dieser scheinbar neuen internationalen Harmonie?

Reimund Schwarze: Ja, weniger als die Hälfte aller Länder hat bisher ratifiziert bzw. erklärt, noch in diesem Jahr zu ratifizieren. Selbst große Länder wie Russland und Großbritannien sind noch säumig. Ich erwarte aber, dass sie diesen Schritt noch in diesem Jahr tun. Länder im Kriegszustand wie Syrien oder der Irak sind natürlich davon ausgenommen und zeigen ganz aktuell, dass wir keine neue, weltumspannende Harmonie haben. Es ist schon ein Erfolg, dass die Klimaverhandlungen bisher nicht für andere Zwecke instrumentalisiert wurden.

Auf der COP 22 soll die konkrete Umsetzung des Klima-Abkommens diskutiert werden. Welches werden die großen inhaltlichen Themen sein?

Reimund Schwarze: Das sind meiner Ansicht nach die Prozesse und Modalitäten zur Anhebung der nationalen Beiträge zum Klimaschutz und die sogenannten Marktmechanismen des Paris-Abkommens. Kann man die Dynamik des Ratifikationsprozesses aufrechterhalten, wenn das zentrale Instrument der globalen Bestandsaufnahme nationaler Beiträge erst 2023 wirksam wird? Stellen Kompensationen wie z.B. Baumpflanzungen zum Ausgleich von Emissionen im Verkehr – wie jetzt in der Internationalen Luftfahrtorganisation beschlossen – langfristig einen Schritt in Richtung „höchstmöglicher Anstrengungen“ dar? Der von vielen unerwartete schnelle Erfolg beim Inkrafttreten des Paris-Abkommens ließ einfach zu wenig Zeit, dass man bereits in Marrakesch in zentralen inhaltlichen Fragen weiterkommt. Und so erwarte ich hier vielfach eine Vertagung.

Wo erwarten Sie die größten Auseinandersetzungen?

Reimund Schwarze: Die erwarte ich erneut beim Thema „Schäden und Verluste“ aus dem Klimawandel. Auch hier erheben die afrikanischen Länder beträchtliche Finanzforderungen an die Industrieländer, aber weniger als Entschädigungsleistungen denn als deutliche Stärkung der Anpassungsfinanzierung. Noch immer fließen nur etwa zwanzig Prozent der Finanzmittel der UN und des Grünen Klimafonds in die Klimaanpassung, achtzig Prozent in den Klimaschutz. Hier muss auf der Grundlage der Festlegungen von Paris ein neues, ausgewogeneres Verhältnis erreicht werden.

Wie sollen die Vereinbarungen und Ziele, die in Paris abgeschlossen wurden, konkret umgesetzt werden?

Silke Beck: In Paris wurden keinesfalls, wie oft angenommen, verbindliche Reduktionsziele für Emissionen (wie im Kyoto-Protokoll für Industrieländer) festgelegt. Stattdessen bestimmen im Paris Agreement – im Gegensatz zu vertraglich per Beschluss einer Klimakonferenz festgelegten Klimaschutzvorgaben – die Nationalstaaten ihre nationalen Ziele selbst. Die Festlegung dieser Ziele bleibt freiwillig und kann nicht durch Dritte angeordnet werden. Eine andere Lösung wäre politisch nicht durchsetzbar gewesen. Allen voran haben die USA, China und Indien darauf bestanden, souverän über ihre Minderungsziele und Maßnahmen zu entscheiden.
Während die Festlegung der klimapolitischen Ziele freiwillig ist, ist der Prozess ihrer Überprüfung verbindlich festgelegt: Die UNFCCC-Unterzeichnerstaaten legen regelmäßig Berichte über ihre Reduktionsziele und Entwicklung der Treibhausgasemissionen in ihrem jeweiligen Land vor. Es ist kein Geheimnis, dass das Klima-Regime bereits vor Paris massive Defizite bei der Umsetzung seiner Beschlüsse hatte. An dieser Kluft zwischen ambitionierten Zielen auf der einen und ihrer halbherzigen Umsetzung auf der anderen Seite werden, so die Befürchtung von Beobachtern, vermutlich die in Paris getroffenen Vereinbarungen, auch wenn sie konsequent umgesetzt werden, wenig ändern. Und damit verbunden ist davon auszugehen, dass – trotz jahrelangen Verhandlungsmarathons – die Emissionen weiter steigen werden.

Reimund Schwarze: Ich sehe das etwas optimistischer. In der „Agenda des Handelns“ von Lima und Paris wird über die freiwilligen Zusagen der nicht-staatlichen Akteure bereits jetzt Buch geführt, und hier zeigt die Kurve eindeutig nach oben: Seit dem Abkommen von Lima (2014) wurden über 11.000 solcher Selbstverpflichtungen registriert, die Zahl ist in den letzten zwei Monaten allein um weitere 1.000 gewachsen – und wir werden weiter ansteigende Zahlen nach Marrakesch sehen.
Der deutsche Klimaschutzplan 2050, dessen Verabschiedung ja leider noch aussteht, ist eine konsequente Umsetzung des „Bottom Up“ des Paris-Abkommens. Er ist als „Gesellschaftsprojekt“ angelegt; d.h. er räumt vor allem den nicht-staatlichen Akteuren in Wirtschaft, Städten und den Bürgern großen Raum bei der Mitwirkung und Gestaltung ein, und er hat nur ein langfristiges Globalziel der Emissionsminderung von minus 85-90 Prozent gegenüber 1990. Alles andere ist Lernen und allmähliche Gewöhnung an das Neue. Die Signale in der Wirtschaft und Finanzwelt stehen heute eindeutig auf „weg von der Kohle“ und den massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien. Am Ende wird das ökonomisch geklärt. Wenn die Risiken der Investition in fossile Brennstoffe so teuer werden, dass sie sich auch dann nicht mehr lohnen, wenn der Preis fällt, wie jetzt beim Erdöl; dann werden fossile Brennstoffe ökonomisch ersetzt.

Silke Beck: Aber wer garantiert denn, dass aus schönen Worten konkrete Taten folgen und wie lässt sich das erfassen? Eines der zentralen Probleme besteht doch im Falle des Klimawandels darin, dass auf internationaler Ebene wirksame Mechanismen fehlen, um die Umsetzung und Einhaltung von Verpflichtungen, die Staaten eingehen, systematisch zu überprüfen und ihre Nicht-Einhaltung wirksam zu sanktionieren. Es fehlt, um es platt auszudrücken, ein Mechanismus („Muskel“), um Verursacher von Emissionen verbindlich in die Verantwortung zu ziehen und Regelverstöße zu ahnden. Es gibt unendlich viele Schlupflöcher. Ob da „Stubser mit Blamage-Faktor“ wirklich helfen – wie die FAZ das Ergebnis von Paris tituliert hat – bleibt abzuwarten. Wie der Diesel-Skandal von VW zeigt: Da, wo nicht systematisch nachgeprüft, sondern gerne weggeschaut wird, werden Vorlagen und Vereinbarungen auch nicht konsequent umgesetzt. Man kann das Greenwash oder symbolische Politik nennen. Das ist allerdings nicht nur in der Automobilbranche und nicht nur in Deutschland der Fall.

Setzen Sie eher auf persönliche Anreize oder Sanktionen um die Klimaziele umzusetzen?

Silke Beck: Es gibt sicherlich nicht den Königsweg oder den gordischen Knoten, um das Klima-Problem mit einem Schlag zu lösen. Ein so komplexes und umfangreiches Thema wie der Klimawandel erfordert ein sehr breites und abgestimmtes Spektrum von Instrumenten – von staatlichen Ver- und Geboten über marktwirtschaftliche Instrumente wie den Emissionshandel bis hin zu informationsbasierten Instrumenten auf allen Ebenen (global bis lokal) und in allen betroffenen und verursachenden Bereichen (Hochwasser, Gesundheit, Infrastruktur, etc.). In den letzten Jahren richtete sich in der Klimapolitik die Hoffnung auch auf Konsumenten und Verbraucher und ihre Marktmacht sowie andere nicht-staatliche Akteure wie Unternehmen, die zentrale Beiträge zur Klimapolitik leisten können. Wo Markt und Staat nicht greifen, sollen es Stupser (Nudging) richten. Neue Konzepte rücken zu Recht die Verbraucherseite stärker auf die Agenda, vor allem im Bereich des Energiesparens – denn ein erheblicher Anteil des Energieverbrauchs geschieht in privaten Haushalten. Licht wird angelassen, Geräte stehen tage- und wochenlang auf Standby oder die Wohnung wird geheizt, wenn niemand zu Hause ist. Durch „Anstupsen“ sollen Impulse gegeben werden, die das Verhalten von Menschen in eine umweltverträglichere Richtung beeinflussen sollen, ohne sie in ihrer Wahlfreiheit einzuschränken. Allerdings ist offen, ob und wie diese Maßnahmen tatsächlich wirken, verfassungskonform sind oder ob es nicht wie bei Diäten Jojo-Effekte gibt. Genau dieses Thema werden wir Sozialwissenschaftler am UFZ in den nächsten Jahren untersuchen.

Forschungsministerin Wanka betont ja immer wieder, dass die Wissenschaft in Bezug auf neue Technologien „nicht von vornherein die Schere im Kopf haben und sich selbst beschränken“ darf. Das Thema Climate Engineering, an dem Sie als Politikwissenschaftlerin forschen, ist ein solches ideologisch umstrittenes Forschungsfeld…

Silke Beck: In Paris konnte man sich zwar über das Ziel einigen, die Erderwärmung auf „deutlich unter zwei Grad“ zu begrenzen. Nicht umstritten ist auch, dass die Zeit knapp ist und sich das Fenster zum Erreichen dieses Zieles schnell schließt – nach derzeitigen Berechnungen dürfte das verbleibende Emissionsbudget zum Erreichen des 2-Grad-Ziels in der ersten Hälfte der 2020er-Jahre verbraucht sein. Bei Lichte betrachtet handelt es sich jedoch um ein trojanisches Pferd. Denn fragt man nüchtern danach, wie diese ambitionierten Ziele erreicht werden können und sollen, dann ist die Botschaft des Weltklimarats, dass das 2-Grad-Ziel nicht ohne „negative Emissionen“ zu erreichen ist.

Was genau verbirgt sich dahinter?

Silke Beck: Es handelt es sich um den Einsatz von Technologien, die der Atmosphäre CO2 entziehen und damit sogenannte „negative Emissionen“ generieren. Mit diesem Thema gewinnen auch zahlreiche Technologien, die bislang unter Climate Engineering diskutiert werden, an Gewicht. Erfolgsversprechend erscheinen dabei vor allem Biomasseverbrennung mit Kohlenstoffdioxidabscheidung (BECCS) oder eine erhöhte CO2-Aufnahme durch eine veränderte Landbewirtschaftung, beispielsweise das Anpflanzen von Wäldern. Bei negativen Emissionen handelt es sich um eine hoch riskante Wette auf die Zukunft, der zufolge sich mit Hilfe bestimmter Technologien das Emissionsbudget – ähnlich wie bei einem Bankkredit – zunächst kurzfristig überziehen und dann im Laufe des 21. Jahrhunderts wieder ausgleichen lässt.

Klingt riskant…

Silke Beck:
Wie schnell und schmerzlich diese Blasen platzen können, hat die Finanzkrise von 2009 gezeigt. Die Wette, dass man ab dem Jahr 2030 in großem Maßstab kostengünstig Emissionen aus der Atmosphäre zurückholen kann, birgt viele Risiken und Unwägbarkeiten von unbekanntem Ausmaß. Denn die notwendigen Technologien, auf welche der Weltklimarat seine Projektionen stützt, sind keine Wunderwaffen, die man bereits heute einfach aus der Schublade ziehen kann. Sie sind längst nicht ausgereift. Gleichzeitig mehren sich die Indizien, dass sie nicht in dem Ausmaß verfügbar sein werden, in dem sie vom Weltklimarat zur Erreichung des 2-Grad-Ziels, geschweige denn des 1,5-Grad-Ziels angesetzt werden. Der Einsatz dieser Technologien könnte darüber hinaus genau das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken: Das Vertrauen in negative Emissionen könnte zu einem Nachlassen der Bemühungen zur Emissionsreduktion führen und der Nutzung fossiler Energie eine Renaissance verschaffen. Damit würden die positiven Entwicklungen um die Energiewende paralysiert und letzten Endes der fossile Pfad der Energieversorgung zementiert.

Oftmals wird von Experten wie Lord Stern suggeriert, dass „wir“ – die Menschheit – keine andere Wahl hätten und keine Zeit mehr bliebe, die Frage demokratisch zu entscheiden, ob und in welcher Weise und in welchem Ausmaß negative Emissionen zur Lösung der Klimapolitik eingesetzt werden können, um damit die Weichen für die zukünftige Entwicklung des Klimas zu stellen. Sicherlich ist es schwer vorauszusagen, welche Folgen die technischen Eingriffe in biogeochemische Kreisläufe der Erde kurz- und langfristig, global und regional haben. Wie das Beispiel Biokraftstoffe der ersten Generation zeigt, werden diese auch mit gravierenden Auswirkungen auf Landnutzung, Biodiversität und Ernährungssicherheit verbunden sein und zu neuartigen Verteilungskonflikten zwischen Nord und Süd führen. Genau aus diesen Gründen ist es auch wichtig rechtzeitig zu fragen: Welche Risiken sind wir bereit unter welchen Rahmenbedingungen für welche Chancen einzugehen?

Wer wird diese Frage beantworten?

Silke Beck: Zahlreiche Studien zu umstrittenen Technologien wie Atomkraft und Gentechnik zeigen, dass es notwendig ist, frühzeitig eine offene politische Diskussion darüber zu führen, ob und in welchem Ausmaß in diese Technologien tatsächlich heute investiert werden soll und ob in welchem Maße diese zur Lösung umweltpolitischer Probleme eingesetzt werden sollen. Denn der großflächige Einsatz dieser Technologien wird alle Regionen betreffen, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Wie das Beispiel der Endlagersuche in Schweden zeigt, können diese Diskussionen dann, wenn transparent und offen geführt und alle betroffenen gesellschaftlichen Gruppen einbezogen werden, auch dazu beitragen, das Vertrauen in Institutionen wie Wissenschaft und Politik, die mit der Lösung dieser Probleme befasst sind, herzustellen.
Auf diese Herausforderungen wird unter anderem mit Formen der verantwortlichen Forschung („Responsible Research und Innovation“ RRI) reagiert. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat im Mai 2013 ein Schwerpunktprogramm gestartet, das Risiken und Nebenwirkungen des sogenannten „Climate Engineering“ untersucht. Gegenstand der Forschung sind dabei auch die ethischen, rechtlichen und politischen Implikationen, die mit der gezielten und großflächigen Einflussnahme auf das Klimasystem mit potenziellen Wirkungen über viele Jahrhunderte einhergehen. Ich selbst leite gemeinsam mit Prof. Dr. Daniel Barben von der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt ein Forschungsprojekt, das sich mit Möglichkeiten und Grenzen verantwortlicher Forschung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik des Klimawandels beschäftigt.

Herr Schwarze, Sie werden als Beobachter wieder selbst auf der COP 22 anwesend sein. Mit welchen Erwartungen fliegen Sie nach Marrakesch?

Reimund Schwarze: Ich bin zuversichtlich, dass es auf dem im letzten Jahr eingeschlagenen Weg weiter geht. Wichtig wird sein, dass es im Bereich der Finanzierung konkrete Aufstockungen für den Anpassungsfonds der UN gibt und damit ein klares Signal an die Entwicklungsländer, jetzt auch zügig zu ratifizieren.

Welche Bedeutung hat es, dass die Klimakonferenz auf dem afrikanischen Kontinent stattfindet?

Reimund Schwarze: Dies ist eine „afrikanische COP“, nicht nur weil sie in Afrika stattfindet, sondern weil eine Verhandlungsgruppe von über 50 afrikanischen Ländern unter der Schirmherrschaft von Marokko dafür eine gemeinsame Gipfelstrategie ausgearbeitet hat. Vorrangig geht es dabei um die Zusage von Finanzmitteln durch die Industrieländer im Umfang von rund zehn Milliarden US-Dollar für erneuerbare Energien. Deutschland ist daran mit rund drei Milliarden beteiligt und steht insoweit besonders im Rampenlicht des Geschehens.