Ö KO SYS T E M E D E R Z U K U N F T ESSAY WARUM DIE ÖKOSYSTEME DER ZUKUNFT MULTIFUNKTIONAL SEIN MÜSSEN Die Ende Mai 2020 von der EU-Kommission veröffentliche Strategie zum Schutz der Biodiversität bis 2030 trägt den Untertitel „Bringing nature back into our lives”. Die Frage, wie es gelingen kann, die Natur wieder in unser Leben zu integrieren, ist von grundlegender strategischer Bedeutung für das Überleben der Menschheit und keineswegs neu. Die bislang dominierende Strategie bestand darin, immer mehr Ressour- cen der Natur zu nutzen, um unser Leben zu verbessern. Heute sehen wir, wie dieser auf Wachstum orien- tierte Ansatz zu seinem Ende kommt. Wir übernutzen die meisten, auch die erneuerbaren Ressourcen und haben keine Steigerungsmöglichkeiten mehr. Dennoch ist der Zeitgeist im- mer noch vom Wachstumsparadigma geprägt und von der Idee, man könne diesen Pfad weiter beschreiten, indem man entsprechende Technolo- gien entwickelt oder sogar Ressour- cen aus den Weiten des Weltraums nutzt. Dieses Paradigma steht im völligen Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Erkennt- nissen. Kein Ökosystem – und die Erde ist ein solches System – kann ständig seine Primärproduktion steigern. Auch die Annahme vieler Ökonomen, dass Ressourcen durch andere ersetzbar seien, übersieht die schlichte Tatsache, dass wir Menschen als biologische Wesen von Sauerstoff, Wasser, Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen sowie anderen Elementen abhängen. Deshalb gibt es ganz objektive Grenzen des Wachstums – eine Erkennt- nis, die der Club of Rome schon 1972 formulierte und die heute aktueller denn je ist. Die Idee, man müsse für unser Überleben nur für saubere Luft, sauberes Wasser und fruchtbare Böden sorgen, übersieht, dass hierzu die Vielfalt des Lebens, die Biodiversität der Erde, benötigt wird. Nur sie kann das Funktionieren der Ökosysteme sichern, ihre Produktivität erhalten oder auch für das Recycling von Stoffen sorgen. 2 Seit Jahrzehnten herrscht die Idee vor, Ökosystem- bzw. Landschaftsfunktionen, also die Nutzung und den Schutz der Landschaft, räumlich strikt zu trennen. So betreiben wir auf der einen Seite intensive Land- und Forstwirt- schaft, die auf maximale Produktion fokussiert ist oder entwickeln urbane Räume mit hohen Verdichtungsgraden. Auf der anderen Seite weisen wir Gebiete aus, die wenig oder nicht genutzt werden dürfen, um Tiere und Pflanzen zu schützen. Selbst einige Vertreter des Naturschutzes plädieren für diese Trennung. Ich halte sie für falsch, denn sie führt zu zahlreichen Problemen: Die Wasserqualität von Grund- und Oberflächengewässern verschlechtert sich, die Erosion durch Wasser und Wind und die Wüstenbildung nehmen zu und die Biodiversität sowie deren direkte Leistungen, zu denen die Bestäubung wichtiger Wild- und Nutzpflanzen und die Kontrolle von Schaderregern zählen, nehmen drastisch ab. Durch den Menschen gesetzte Selektionsbedingungen (Pestizide, generelle Umweltveränderungen etc.) sorgen für neue Evolutionsprozesse, die zu neuen Resistenzen und zur Auslese neuer Genotypen von Wildpflanzen- oder Wildtier- populationen führen können. Und nicht zuletzt begünstigt die immer stärkere Einengung natürlicher Systeme auch, dass Pandemien entstehen und sich ausbreiten, so wie wir es derzeit mit Covid19 erleben. Die Konsequenz ist: Wir müssen die Natur in unser Leben und Wirtschaften zurück bringen sowie die Multifunktionalität unserer Ökosysteme und Landschaften verbessern. Was kann die Wissenschaft dazu beitragen? Der ent- scheidende Ansatz liegt hier zuerst im Verstehen der Vielfalt des Lebens und von ihr in Gang gesetzter, natürlicher ökosystemarer Prozesse. Wir müssen weit besser begreifen, wie Organismen, egal ob Mikroben,