Interview:

Soll die Natur das Klima langfristig stabilisieren, braucht sie Hilfe


Für einen gemeinsamen Workshop-Bericht haben Expert:innen des Weltklimarates IPCC und des Weltbiodiversitätsrates IPBES erstmals gemeinsam das aktuelle Wissen zu Biodiversität und Klimawandel zusammengetragen sowie Handlungsoptionen definiert und priorisiert. Eine wichtige Erkenntnis lautet: Die Möglichkeiten der Natur, den Klimawandel langfristig zu begrenzen, werden oft überschätzt. Warum, erklären zwei beteiligte Autoren im Interview: Prof. Hans-Otto Pörtner vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, und Prof. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung.

Prof. Hans-Otto Pörtner (AWI) und Prof. Josef Settele (UFZ). Quelle: Susan Walter, UFZ


Herr Pörtner, Herr Settele, der neue Workshop-Bericht beginnt mit der Kernaussage, dass sich das Klima und die Natur der Erde gegenseitig beeinflussen und eng zusammenhängen. Für jeden, der im Geografie- und Biologieunterricht aufgepasst hat, ist diese Erkenntnis nicht wirklich neu. Warum sehen Sie dennoch die Notwendigkeit, diesen Fakt noch einmal so bewusst zu betonen?


Josef Settele: Kurz gesagt: Vielleicht auch weil die Politik von Leuten mitbestimmt wird, die in der Schule nicht aufgepasst haben.

Hans-Otto Pörtner: Das Klimaproblem wird mittlerweile schon verstanden. Dasselbe gilt für die verschiedenen Lösungen, mit denen es gelingen kann, den Klimawandel zu begrenzen. Allerdings wird das Biodiversitätsproblem als ein komplett separates Problem behandelt – auch, wenn es um Lösungsansätze geht. Dazu kommt das Risiko, dass die Natur als Vehikel diskutiert wird, um die Klimaproblematik zu lösen, was sehr problematisch ist. Die Möglichkeiten der Ökosysteme werden überschätzt. Der Grund dafür ist, dass wir Menschen der Natur in den zurückliegenden Jahrhunderten vor allem geschadet haben. Wir haben zum Beispiel die Hälfte der Pflanzen-Biomasse beseitigt, glauben jetzt aber dennoch, die Natur sei im Stande, als große Retterin in der Klimakrise zu fungieren und uns die weitere oder längere Nutzung fossiler Brennstoffe zu ermöglichen. Diese Fehleinschätzung rücken wir in unserem neuen Workshop-Bericht gerade und definieren Prioritäten für die verschiedenen Handlungsfelder der Politik. 


Welche Maßnahmen stehen ganz oben auf Ihrer Liste?

Hans-Otto Pörtner:
Es ist sehr deutlich geworden, dass die Vermeidung von Emissionen eine ganz hohe Priorität haben muss. Wir haben keine andere Alternative. Nur wenn das gelingt und die Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius beschränkt wird, können die Ökosysteme in nennenswerter Form und auf langen Zeitskalen einen Beitrag zur Stabilisierung des Klimas leisten. Das Problem dabei ist: Wer heute glaubt, die Menschheit könnte einen Teil ihrer Emissionen aufrechterhalten, weil ihr die Natur ja hilft, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen – dem können wir nur sagen: Die Biosphäre ist durch menschliche Aktivitäten so schwer beschädigt worden, dass sie dieser Aufgabe nur noch eingeschränkt nachkommen kann; hinzu kommt nun der Klimawandel, der diese Fähigkeit weiter reduziert. Entsprechende Entwicklungen sehen wir heute bereits im Gebiet des Amazonas-Regenwaldes. Aber auch in unseren gemäßigten Breiten nimmt die Fähigkeit der Wälder ab, Kohlenstoff zu speichern. Dabei ist diese Funktion langfristig wichtig, um das Klima zu stabilisieren.

Josef Settele: Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass zum Beispiel durch die Biomasseproduktion für die Energiegewinnung nur ein kleiner Teil der notwendigen Reduzierung von Emissionen erreicht wird. Gleichzeitig aber hat der Anbau von Energiepflanzen oft schädliche Auswirkungen. Auf derselben Fläche können zum einen keine Feldfrüchte für die Produktion von Nahrungsmitteln angebaut werden; zum anderen fehlen diese Flächen der Natur als Lebensraum für Artenvielfalt. Der in unseren Breiten häufig angebaute Mais beispielsweise wird von einigen noch immer als Heilmittel zur Biogas-Produktion betrachtet, obwohl er eine exotische Pflanze und der Biodiversität kaum zuträglich ist. Trotzdem wird mancherorts immer noch geglaubt, durch den Maisanbau ließe sich auch die Artenvielfalt erhalten – eine Vorstellung, die sowohl in Hinblick auf ihre Klimawirkung als auch auf die Artenvielfalt viel zu einfach ist. Natürlich findet man auch in einem Maisfeld etwas, das krabbelt. Diese wenigen Käfer und Insekten repräsentieren aber nicht die Biodiversität, um die es hier geht, wenn unsere Systeme überleben sollen. 


Dennoch suggerieren Politik und Unternehmen den Bürgern und Bürgerinnen, der Kauf neuer Ware oder aber der Flug in den Urlaub geht in Ordnung, wenn gleichzeitig eine bestimmte Anzahl Bäume gepflanzt wird. Werden Wähler:innen und Kund:innen hier bewusst getäuscht?

Hans-Otto Pörtner: Beispiele aus Politik und Werbung zeigen das große Dilemma, in dem wir derzeit stecken. Wir müssen den richtigen Weg finden zwischen massiven Emissionseinsparungen, dem Biodiversitätsschutz und dem dazugehörigen Flächenschutz. Ein ‚Green-Washing‘, wie es zum Beispiel die großen Discounter momentan betreiben, die sich ja aufgrund von Kompensationsmaßnahmen als klimaneutral bezeichnen, ist faktisch falsch. Natürlich ist es sinnvoll, in die Stärkung der Natur zu investieren, Ökosysteme wiederherzustellen, Wälder zu renaturieren und ihre CO2-Speicherkapazität zu erhöhen. Entsprechende Initiativen aber mit den eigenen CO2-Emissionen zu verrechnen, führt zu einem Lock-in. Das heißt, die Welt verharrt in einer Situation, in der Aktivitäten, die CO2-Emissionen verursachen, nicht weiter zurückgefahren oder vermieden werden. Stattdessen werden diese Emissionen mit einem grünen Siegel versehen und aufrechterhalten.

Josef Settele: Solche Firmen müssten eigentlich zwei Dinge parallel machen. Sie müssten einerseits überzeugend darstellen, dass sie ihre Emissionen reduzieren. Andererseits wäre es wichtig, dass sie in die Zukunft investieren, indem sie Mittel bereitstellen, um Ökosysteme wiederherzustellen und so einen langfristigen Klimaschutz zu gewährleisten. In der Politik wird aufgrund einer wissenschaftlichen Studie angenommen, dass die Natur in der Lage wäre, etwa 30 Prozent jener Emissionen aufzunehmen, die bis zum Jahr 2030 der Atmosphäre entzogen werden müssen, um die Erderwärmung auf unter 2 Grad Celsius zu begrenzen. Selbst wenn diese Einschätzung sehr optimistisch ist und das Potenzial praktisch täglich sinkt, zeigt dies natürlich auch die Grenzen des Ansatzes auf.


Überschätzt wird auch die Landfläche, die für Wiederaufforstungen oder aber den Anbau von Energiepflanzen tatsächlich zu Verfügung steht, oder?

Hans-Otto Pörtner: Es gibt durchaus Strategien, wie man Landfläche freischaufeln kann. Wenn wir es schaffen, Verluste in der Nahrungsmittelproduktion zu vermeiden und unsere Ernährung von einer sehr tierbasierten auf eine stark pflanzenbasierte Ernährung umzustellen, könnten wir große Teile der Ackerbaufläche freistellen, nicht nur für den Anbau von Nutzpflanzen für die menschliche Ernährung, sondern auch für die Renaturierung von Ökosystemen. Man muss sich mal vorstellen: 77 Prozent des globalen Agrarlandes werden mittlerweile für die Fleischproduktion genutzt. Das heißt, es gibt Landreserven, die derzeit jedoch für falsche Zwecke benutzt werden – hier besteht massiver Korrekturbedarf. Dies betrifft auch den Import von Futtermitteln, für deren Produktion kostbarer Regenwald gerodet wird.

Josef Settele: In Deutschland verwenden wir mittlerweile 60 Prozent unserer Agrarflächen für die Tierproduktion beziehungsweise für die Produktion von Futtermitteln. Diese Zahl verdeutlicht schon: Würden sich die Menschen pflanzenbasiert ernähren, hätten wir völlig andere Bedingungen und es würde sich auch nicht die Frage stellen, wie die wachsende Weltbevölkerung künftig ernährt werden soll. Dieses Problem stellt sich uns nur, weil davon ausgegangen wird, dass wir unsere derzeitige Ernährungsweise beibehalten werden. Dabei brauchen wir hier eine ganz andere Basis – auch unser individuelles Verhalten spielt an diesem Punkt eine ganz entscheidende Rolle. 


Unter solchen Voraussetzungen stünden vermutlich auch ausreichend Flächen für die riesigen Schutzgebiete zur Verfügung, die Sie in Ihrem Workshop-Bericht fordern.

Hans-Otto Pörtner: Richtig, 30 bis 50 Prozent der Naturräume unter Schutz zu stellen und die Biodiversität wieder aufzubauen, wäre machbar, wenn ein entsprechendes Management von Land und Ozean betrieben wird und wir unsere Art zu konsumieren umstellen. Für den Ozean würde diese Maßnahme vielen Fischbeständen Raum und Zeit geben, sich von der Überfischung zu erholen. Langfristig wäre dann auch eine nachhaltige Fischerei möglich. Für die Ausweitung nachhaltig genutzter Naturräume an Land müssten wir zurück zum Sonntagsbraten und auf das tägliche Stück Billigfleisch verzichten.

Josef Settele: In Deutschland hören wir oft das Argument, dass doch unsere Heide- und Wiesenlandschaften von Weidetieren geschaffen wurden. Das ist richtig und spricht für weitere Tierhaltung. Was dabei aber oft vergessen wird, ist: Diese Landschaften zeichnen sich durch eine extensive Nutzung aus, durch geringe Nutztierdichten und durch ein entsprechendes Tierwohl in den Herden. Das sind genau die Tiere für den Sonntagsbraten oder auch für den qualitativ hochwertigen Käse und in diesem Fall brauchen wir auch die Nutzung der Flächen – aber eben in einem kleinen Maße.


In dem Workshop-Bericht sprechen Sie außerdem von einem Dreiklang aus Emissionsvermeidung, nachhaltigem Artenschutz und sozialer Gerechtigkeit, der für eine nachhaltige Entwicklung benötigt wird: Mit welchen Instrumenten ließe sich dieser Dreiklang in der Praxis am besten umsetzen?

Hans-Otto Pörtner: Gedacht wird da in erster Linie an eine großskalige internationale Koordination für die Nutzung der Oberfläche der Erde. Dies bezieht Land und Ozean mit ein. Wir brauchen vernetzte Schutzgebiete; wir brauchen eine Integration von Schutz und nachhaltiger Nutzung. Das heißt jetzt nicht, dass wir die Menschen aus der Natur aussperren wollen. Im Gegenteil: Sie sollen einen Spielraum haben, Räume naturnah zu gestalten und zu nutzen, wie es ja zum Teil in alten Kulturlandschaften der Fall ist. Der Schutzgedanke reicht von Schutzzonen, in denen nichts passieren sollte, bis in Bereiche, wo Biodiversität ja auch von menschlichen Aktivitäten profitiert – die Lüneburger Heide ist hier ein ganz klassisches Beispiel. Wichtig ist die Vernetzung der Gebiete. Wir müssen die Arten in die Lage versetzen, im Zuge des Klimawandels zu wandern und neue Land- und Ozeanregionen zu besiedeln, in denen sie klimatisch betrachtet bessere Lebensbedingungen vorfinden als in den alten.

Josef Settele: Wenn wir uns zum Beispiel den europäischen Gebietsverbund Natura2000 anschauen, dann gibt es tatsächlich Stimmen, die sagen: Wenn in den Schutzgebieten jene Arten nicht mehr vorkommen, für die sie ursprünglich einmal ausgerufen wurden, dann können wir den Schutzstatus aufheben. Das ist natürlich völlig statisch gedacht und ignoriert die Tatsache, dass diese Schutzgebiete als Trittstein für jene Arten dienen, die im Zuge des Klimawandels potenziell von Süden nach Norden wandern. Beispiele wie dieses zeigen: Das Konzept der Naturschutzgebiete muss heutzutage viel dynamischer gedacht werden. Landschaften müssen für Arten durchlässig sein. Das heißt, Ziel der Politik sollte es sein, viel mehr Trittsteine zu schaffen, um den Arten im Klimawandel eine Überlebenschance zu bieten. 


Wie wirksam wäre es angesichts der durchaus komplexen Sachlage, erst einmal Subventionen für naturschädigende Nutzungsformen zurückzufahren?

Josef Settele: Subventionen sind zweifelsohne eine große Quelle des Übels, wenn sie klima- und naturschädigende Praktiken fördern. Diese gilt es deutlich zu minimieren. Gleichzeitig aber werden wir Subventionen als Steuerungsinstrument einsetzen müssen, um den notwendigen Wandel anzuschieben und nachhaltige Formen der Land- und Meeresnutzung zu fördern, vor allem am Anfang und in der Übergangszeit. Die Herausforderung wird sein, sie sinnvoll und zielführend einzusetzen, damit diese Umsteuerung auch gelingt.


Die Dringlichkeit der Klima- und Artenkrise wird mittlerweile oft an sogenannten Kipppunkten festgemacht: Welche unwiderruflichen Biodiversitätsveränderungen sehen Sie bereits auf die Welt zukommen?

Josef Settele: Man kann schon das Aussterben einer Art als Kipppunkt bezeichnen, schließlich ist sie unwiderruflich verloren. Aus dieser Perspektive betrachtet, vermeiden wir mit jeder Art, die wir erhalten können, einen weiteren Kipppunkt. Uns muss auch bewusst sein, dass der Verlust jeder Art für uns Menschen potenziell zukunftsschädigend ist. Momentan verliert die Erde rund 150 Tier- und Pflanzenarten pro Tag. Das heißt, wir sprechen über Tausende Arten und Jahrmillionen an Geschichte und Evolution, die verloren gehen und dem natürlichen System und somit am Ende auch uns Menschen fehlen.

Hans-Otto Pörtner: An diesem Punkt kommen Klima- und Biodiversitätsschutz zusammen. Wenn wir auf die größere Ebene schauen, sehen wir bereits ein System, bei dem ein großskaliger Kipppunkt schon überschritten ist. Dabei handelt es sich um die Warmwasser-Korallenriffe. Diese Ökosysteme werden wir großflächig verlieren und mit ihnen die vielen wichtigen Funktionen, die sie erfüllen. Mit großer Sorge schauen wir auch auf den Amazonas-Regenwald, der als großes Ökosystem bislang in der Lage war, sein eigenes Klima zu definieren und seinen Wasserhaushalt eigenständig zu gestalten. Sollte ihm beides nicht mehr gelingen, wäre ein Kipppunkt erreicht, an dem sich der einstige Regenwald in ein trockeneres Ökosystem wandelt und einen Großteil seiner bisherigen Artenvielfalt und Funktionen einbüßt. 


Wann wird das so weit sein?

Hans-Otto Pörtner: Den Zeitpunkt dieses Überganges zu definieren, ist schwierig. Der Amazonas gehört jedoch zu jenen Systemen, bei denen wir schon sehr nah an der Belastungsgrenze sind und deren Schutzanspruch einschließlich nachhaltiger Nutzung deutlich über die Hälfte seiner Fläche hinausgeht. In seinem Fall müssen wir uns wirklich Sorgen machen. Um es aber noch einmal zu betonen: Kipppunkte zu definieren und unser menschliches Handeln danach auszurichten, ist wirklich schwer. Das Beste, was wir machen können, ist das Vorsorgeprinzip anzuwenden – das heißt vor allem, die globalen Treibhausgasemissionen umfassend zu reduzieren und gleichzeitig die Vielfalt des Lebens in der Natur zu stärken und zu erhalten.

Herr Pörtner, Herr Settele – wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


Zu den Experten:
Prof. Hans-Otto Pörtner forscht als Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Er leitet zudem als Ko-Vorsitzender die Arbeitsgruppe II des Weltklimarates IPCC und hat als Ko-Vorsitzender des wissenschaftlichen Lenkungsausschusses die wissenschaftlichen Arbeiten an dem neuen IPBES-IPCC Workshop-Bericht zu Biodiversität und Klimawandel koordiniert.

Prof. Josef Settele forscht als Agrarwissenschaftler und Biodiversitätsexperte am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle. Er hat als einer von drei Ko-Vorsitzenden des Weltbiodiversitätsrates IPBES dessen erstes globales Assessment mitgeleitet und war zudem als Autor am 5. Weltklimabericht des IPCC beteiligt. Beim neuen IPBES-IPCC Workshop-Bericht zu Biodiversität und Klimawandel ist seine wissenschaftliche Expertise in Kapitel 5 eingeflossen.