PD Dr. Josef Settele, Koordinierender Leitautor für das IPCC-Kapitel 4 der Arbeitsgruppe II des IPCC; Foto: André Künzelmann/UFZ

Wie schreibt man eigentlich ein Kapitel für den IPCC-Klimabericht? 


Sieben Fragen an den Agrarbiologen PD Dr. Josef Settele vom UFZ, der zusammen mit Robert John Scholes vom Council for Scientific and Industrial Research in Südafrika eines von 30 Kapiteln der Arbeitsgruppe II des 5. Sachstandsberichtes koordiniert und mitverfasst hat. In Kapitel 4 wird der Stand des Wissens zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Terrestrische Ökosysteme und Binnengewässer zusammengefasst.


Herr Settele, Sie sind „Koordinierender Leitautor“ im aktuellen Klimabericht des IPCC. Was bedeutet das in der Praxis?

Die Hauptaufgabe der Koordinierenden Leitautoren besteht darin, den Text, der den Stand der Forschung weltweit zu einem
Thema repräsentieren muss, in seinem Umfang und inhaltlichen Schwerpunkten in Diskussion mit den sogenannten Leitautoren festzulegen.
Im nächsten Schritt erfolgt die Aufteilung der Arbeit im Autorenteam und für jeden einzelnen Autor dann die kritische Sichtung der vorhandenen Literatur. Unsere Aufgabe ist es dann, dafür zu sorgen, dass die unglaublich vielen Einzelbeiträge am Ende wie Puzzlesteine zu einem Gesamtbild zusammengeführt werden können, das in sich stimmig ist und mit dem später alle möglichen Nutzergruppen etwas anfangen können – von sehr interessierten Bürgern, die sich einfach nur informieren wollen, bis hin zu Regierungen, die darauf basierend wichtige Entscheidungen treffen müssen. Und natürlich versuchen wir als Wissenschaftler, den Stand der Forschung ausgewogen und korrekt wiederzugeben – auch wenn dies oft nicht so einfach ist.
Denn wir tragen zunächst das Wissen zusammen, das andere erarbeitet haben, und müssen es auf Basis unserer fachlichen Einschätzung aus der Ferne gewichten. Zum Glück gab es zig Experten, die uns dabei unterstützt und bei den Details geholfen haben. Die menschliche Komponente spielt mitunter auch eine Rolle: Manchmal muss man einfach zwischen verschiedenen Meinungen und Temperamenten vermitteln, damit alle an einem Strang ziehen und die Berichte rechtzeitig fertig werden.

Zahlen und Fakten
zu Kapitel 4

  • 153 Manuskript-Seiten inkl. Anhang (Literaturverzeichnis, 3 Tabellen, 14 Grafiken)
  • Beteiligte: 2 Koordinierende Leitautoren (J. Settele,R.J. Scholes), 6 Leitautoren, 27 beitragende Autoren, 3 Gutachter, 2 freiwillige Kapitelwissenschaftler und mehrere hundert Kommentierende
  • 4 Entwurfsphasen bis zur Endfassung
  • zirka 800 Zitate in Kapitel aufgenommen (doppelt so viele waren in der engeren Wahl)
  • insgesamt etwa 2000 bis 3000 Kommentare, die gesammelt, beantwortet und – wenn positiv bewertet – eingearbeitet wurden
  • Redaktionsschluss für die Berücksichtigung publizierter Arbeiten: 31. August 2013


Vollblutwissenschaftler und Koordinierender Leitautor – wie geht das?

Die Arbeit als koordinierender Leitautor ist eigentlich ein Vollzeitjob, den man sich jedoch in der Realität nicht wirklich leisten kann. Denn die normale Arbeit als Wissenschaftler läuft in der Zeit als Koordinierender Leitautor im Großen und Ganzen weiter.
Da in Spitzenzeiten jedoch deutlich über hundert Emails pro Tag mit Kommentaren erfasst, bewertet, geprüft und eingearbeitet werden mussten, war ich froh, dass die deutschen Koordinierenden Leitautoren durch die Finanzierung des Bundesforschungsministeriums die Möglichkeit hatten, jeweils einen sogenannten Freiwilligen Kapitelwissenschaftler einzustellen. Bislang eine klassische ehrenamtliche Tätigkeit für Nachwuchswissenschaftler. Ihre Aufgabe war es, bei der Bewältigung der vielen Routineaufgaben zu helfen und dafür zu sorgen, dass der sehr aufwendige Abstimmungsprozess möglichst reibungslos verläuft.
Eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Der Koordinierende Leitautor wie auch das gesamte Kapitelteam bekommen personelle Unterstützung und die jungen Wissenschaftler können unheimlich viel dazu lernen: Wie sammelt man Informationen? Wie geht man mit großen Zitationsbanken um? Wie wird so eine Mammutaufgabe konzeptionell angegangen und wie lässt sie sich koordinieren?
Für Kapitel 4 haben zwei jüngere Kollegen diese Aufgabe hintereinander übernommen und mich tatkräftig unterstützt: Der Biologe Dr. Martin Musche übernahm diese Funktion vor einem Jahr von Dr. Marten Winter, ebenfalls Biologe, und als Koordinator des Synthesezentrums sDiv zwischenzeitlich an das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) gewechselt. Seine Expertise zu invasiven Arten sorgte dafür, dass er neben seiner Funktion als Freiwilliger Kapitelwissenschaftler von den IPCC-Kollegen auch als sogenannter Beitragender Autor akzeptiert wurde. Das ist in der IPCC-Hierarchie eher ungewöhnlich.


Der IPCC wird von Kritikern gerne als ein elitärer Zirkel von Wissenschaftlern bezeichnet, die die Deutungshoheit zum Thema Klima nicht aus der Hand geben wollen. Sie waren das erste Mal dabei. Wie sind Sie dazu gekommen und wie haben Sie diese Community empfunden?

Der 5. Sachstandsbericht des IPCC ist keine Geheimsache, auch wenn das Verschwörungstheoretiker im Internet gerne mal behaupten. Dahinter steht vielmehr ein Prozess, der offen ist, was gut und auch notwendig ist. Als Autor konnte sich jeder interessierte Experte bei seiner Regierung bewerben, die wiederum ihre Nominierungen an den IPCC gegeben hat. Auf diese Weise sind für alle drei Arbeitsgruppen des IPCC-Berichts mehr als 3.000 Nominierungen von Regierungen und Beobachterorganisationen eingegangen, aus denen etwa 830 Leitautoren – einschließlich der Koordinierenden Leitautoren – aus aller Welt ausgewählt wurden, darunter 36 aus Deutschland.
Die IPCC-Organisatoren haben sich bemüht, die Autoren und Beiträge möglichst ausgewogen aus allen Weltregionen einzubeziehen. Wichtigstes  Auswahlkriterium war aber die wissenschaftliche Kompetenz der Autoren und Gutachter. Wenn man weiß, dass die Chancen nur bei etwa eins zu drei standen, für den IPCC nominiert zu werden – und dann noch als Koordinierender Leitautor – freut man sich besonders. Wahrscheinlich war es in meinem Fall von Vorteil, dass ich zuvor mit ALARM ein EU-Forschungsprojekt koordiniert habe, in dem auch die Auswirkungen des Klimawandels auf die biologische Vielfalt untersucht worden sind.


Den Stand des Wissens zu einem globalen Problem zusammenzufassen, ist vermutlich eine echte Herausforderung für einen Wissenschaftler. Lässt sich dies mit einem EU-Projekt wie ALARM überhaupt vergleichen?

Die Dimensionen sind ganz andere. ALARM („Assessing Large scale environmental Risks for biodiversity with tested Methods“, d. Red.) war 2004 bis 2009 das größte Forschungsprojekt der EU im Bereich der terrestrischen Biodiversität. Untersucht wurden dabei vier Bereiche, denen ein Anteil am Rückgang der biologischen Vielfalt zugeschrieben wird: Der Klimawandel, der Verlust an Bestäubern wie Bienen, Hummeln und Schmetterlingen, die in der Umwelt vorhandenen Schadstoffe sowie die Invasion gebietsfremder Tier- und Pflanzenarten.
Über 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 35 Ländern waren daran beteiligt. Die IPCC-Arbeitsgruppe II dagegen erhielt schon beim ersten Entwurf rund 20.000 Kommentare von zirka 560 Gutachtern. Jede Regierung der 195 UN-Mitgliedsstaaten sowie hunderte Experten konnten ihre Einschätzung dazu abgegeben, ob der Stand der Forschung angemessen dargestellt ist. Allein in dem Fachgebiet, das unser Kapitel 4 betrifft, erscheinen wöchentlich Dutzende von wissenschaftlichen Studien. Die größte Gefahr für uns war deshalb, etwas Wichtiges zu übersehen. Der IPCC-Bericht ist eben ein weltumfassendes Projekt.
Das macht sich auch in der Kommunikation bemerkbar. Nicht nur, dass rund um die Uhr Kommentare per Email eintreffen. Auch verschiedenste Wissenschaftskulturen prallen dabei auf einander. Ich hätte mir vorher nie vorstellen können, dass wir über die Interpretation von Begriffen wie z.B. Kulturlandschaft so intensiv diskutieren würden. Aus meiner Sicht ist der IPCC-Report die größte wissenschaftliche Gemeinschaftsleistung derzeit. Für jemanden, dem es großen Spaß macht, Wissenschaftler zusammenzubringen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen, ist der Beitrag zum IPCC auf jeden Fall eine große Herausforderung und vor allem auch eine Chance. In Sachen Projektkoordination ist damit eigentlich kaum noch eine Steigerung möglich.


Der IPCC war vor einigen Jahren vor allem in den Medien mit Schlagzeilen über einem Zahlendreher zum Abschmelzen der Himalaya-Gletscher und durch die Veröffentlichung von internen Mails bekannter Klimaforscher und wichtiger IPCC-Autoren. Wie hat das die Arbeit des 5. Sachstandsbericht beeinflusst?

Eine der Herausforderungen ist ja, dass die Publikationen für den Bericht nach der Relevanz und eben nicht nur nach dem Renommee des Journals ausgewählt werden. Also wird teilweise auch auf Reports von Nichtregierungsorganisationen oder ähnliche Dokumente zurückgegriffen, die keinen Gutachterprozess (peer-Review) wie wissenschaftliche Publikationen durchlaufen haben. Das kommt daher, dass es zu bestimmten Themen oder  Regionen keine anderen Quellen gibt. Hier müssen die Aussagen, ihre Quellen und ihre Verlässlichkeit dann besonders gründlich gecheckt werden. Die  Gefahr, dass sich ein Fehler einschleicht, ist prinzipiell immer da, wird aber umso geringer, je mehr Augen darauf schauen. Im Gegensatz zu einem normalen peer-reviewten Paper haben wir beim IPCC aber nicht nur zwei, sondern hunderte von Gutachtern.
Welche Auswirkungen es hat, dass eine relativ aktuelle Fassung des Gesamtberichtes unserer Arbeitsgruppe bereits im Internet aufgetaucht ist, also geleakt wurde, vermag ich noch nicht abzuschätzen. Von einer gewachsenen Angst vor solchen „Leaks“ habe ich als IPCC-Neuling nichts gespürt. Neu war aber auf alle Fälle bei diesem Sachstandsbericht, dass extrem großer Wert darauf gelegt wurde, überall anzugeben, für wie zuverlässig jede Aussage eingeschätzt wird. In diese Bewertung in Form von sogenannten confidence levels flossen dabei jeweils die Anzahl bzw. Qualität der zugrundeliegenden Daten bzw. Studien als auch der Grad ihrer Übereinstimmung mit ein.


Das alles klingt nach einer unglaublichen Arbeitsintensität und extrem hohem Aufwand. Wann wird die Ziellinie erreicht sein?

Vom 25. bis 30. März 2014 wird die IPCC-Vollversammlung im japanischen Yokohama stattfinden. Dann wird die Summary for Policy Makers, also die Zusammenfassung von den Regierungsvertretern, angenommen, hoffe ich. Sie ist untersetzt mit entsprechenden Dokumenten, wie zum Beispiel unserem Kapitel 4. Unsere Arbeit als Autoren ist dann abgeschlossen. Natürlich versucht jedes Team, möglichst viele der Botschaften aus seinem Kapitel in die Zusammenfassung zu bringen. Denn das ist das Dokument, das am meisten Beachtung findet. Der eigentliche Gesamtbericht ist schließlich ein dicker Wälzer und rund 100mal umfangreicher als die Zusammenfassung auf 20 bis 30 Seiten. Unser Kapitel weist als eines von 30 Kapiteln im Bericht der Arbeitsgruppe II gut 150 Manuskriptseiten auf. Wieviel davon in der Zusammenfassung auftauchen wird, wird sich letztlich in der IPCC-Vollversammlung in Yokohama zeigen.
Ich denke aber, dass sich die Arbeit auf alle Fälle gelohnt hat – auch wenn wir alle jetzt mehr als urlaubsreif sind.


Werden Sie sich für den nächsten IPCC-Bericht wieder als Koordinierender Leitautor bewerben?

Zum Glück vergeht bis zum nächsten IPCC-Bericht noch einige Zeit. Jetzt heißt es erst mal durchatmen und sich wieder der normalen Forscherarbeit zu den Auswirkungen der Landnutzung und auch des Klimawandels auf die Artenvielfalt zu widmen.
Also, um ehrlich zu sein, ich kann noch nicht sagen, ob ich mich wieder bewerben werde. Fest steht für mich jedoch, dass ich es nicht bereut habe, weil man auch für die „normale“ Arbeit als Wissenschaftler sehr viel lernen konnte. Und natürlich war es eine große Ehre, dabei gewesen zu sein.

Das Interview führten Tilo Arnhold und Susanne Hufe