Pressemitteilung vom 27. November 2015

Mikrobiologen enttarnen rätselhafte "Comammox"-Mikroben

Nitrifikation erscheint in neuem Licht

Wien, Leipzig. Die Nitrifikation spielt eine Schlüsselrolle im natürlichen Stickstoffkreislauf der Erde sowie in der Landwirtschaft. Der von Mikroorganismen durchgeführte Prozess besteht aus zwei aufeinanderfolgenden Schritten. Seit über 100 Jahren gingen Experten davon aus, dass verschiedene Mikroorganismen für diese Abläufe verantwortlich sind. Ein internationales Forscherteam, an dem auch Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) beteiligt waren, hat nun – völlig konträr zum Lehrbuchwissen – Mikroben entdeckt, die die komplette Nitrifikation allein durchführen: ein Meilenstein in der Mikrobiologie. Publiziert wurde die Studie im renommierten Wissenschaftsjournal "Nature".

Bakterien der Gattung Nitrospira. Foto: Holger Daims

Bakterien der Gattung Nitrospira. Manche Nitrospira können die komplette Nitrifikation allein durchführen.
Foto: Holger Daims

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Stickstoff ist ein zentraler Baustein des Lebens und Teil der Nahrung aller Lebewesen. Besonders deutlich wird dies in der Landwirtschaft: Ohne Stickstoffdünger wäre Ackerbau im heutigen Ausmaß unmöglich. Jedoch hat die Düngung mit Stickstoffverbindungen nicht nur gute Seiten. Der Stickstoffdünger wird durch die Nitrifikation chemisch umgewandelt, gelangt ins Grundwasser sowie in Flüsse und Seen und bringt die Gewässer aus ihrem ökologischen Gleichgewicht. Hinzu kommen Stickstoffverbindungen aus Haushalts- und Industrieabwässern, die vor allem in Ländern ohne funktionierende Abwasserreinigung die natürlichen Gewässer belasten.

Rätselhafte Nitrifikation

Der vom Menschen verursachte Stickstoffeintrag beeinflusst den natürlichen Stickstoffkreislauf, in dem Stickstoffverbindungen von bestimmten Mikroorganismen umgesetzt werden. Dazu gehören die Nitrifikanten, welche den Prozess der Nitrifikation durchführen. Dabei wird Ammonium (ein häufig eingesetzter Stickstoffdünger) zuerst zu Nitrit und anschließend das Nitrit zu Nitrat oxidiert. Seit 125 Jahren weiß man, dass für die zwei Schritte der Nitrifikation verschiedene Mikroorganismen verantwortlich sind: die Ammonium-Oxidierer und die Nitrit-Oxidierer. Durch ihre Zusammenarbeit läuft die Nitrifikation vollständig ab. Auf diesem Wissen basieren hunderte Studien zur Nitrifikation in der Umwelt und in Kläranlagen, wo sie wichtig für die Abwasserreinigung ist. Jedoch: Kein Mikrobiologe hat jemals richtig verstanden, warum es diese Arbeitsteilung bei der Nitrifikation gibt. Eigentlich könnte eine Mikrobe, die beide Schritte der Nitrifikation ausführt, mehr Energie gewinnen und daraus Vorteile ziehen. Für diesen "kompletten" Nitrifikanten haben Mikrobiologen sich sogar einen Namen ausgedacht: "Comammox" ("complete ammonia oxidizer"). Allerdings blieb es für mehr als ein Jahrhundert ungeklärt, ob "Comammox" tatsächlich existiert.

Überraschung im russischen Ölbohrloch

Eine Gruppe von Mikrobiologen der Universität Wien hat das Comammox-Rätsel nun gemeinsam mit Kooperationspartnern aus Russland, Dänemark und Deutschland gelöst. Das Team untersuchte eine Bakterienkultur aus einem 1.200 Meter tiefen Ölbohrloch in Russland. Obwohl diese Kultur Ammonium vollständig zu Nitrat umsetzte, fanden sich darin nur Bakterien der Gattung Nitrospira, die bislang als strikte Nitrit-Oxidierer galten. Diese könnten zwar den zweiten Schritt der Nitrifikation ausführen, jedoch fehlten alle bekannten Ammoniakoxidierer für den ersten Schritt. Die komplette Analyse des Erbguts aller Bakterienarten in der Kultur brachte die Antwort. "Die Nitrospira-Bakterien besaßen alle Gene für die Oxidation von Ammoniak und von Nitrit, also für die komplette Nitrifikation. Das musste der seit langem gesuchte Comammox-Organismus sein", so Michael Wagner von der Universität Wien.

Für den Nachweis der kompletten Wirkungskette – vom Gen bis hin zur tatsächlichen Aktivität – ist es nötig, auch die Existenz der entsprechenden Eiweiße in den Zellen nachzuweisen. Dieser Nachweis gelang einem Wissenschaftlerteam im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). „Neben den Schlüsselenzymen der Nitrifikation fanden wir noch viele andere Auffälligkeiten in den Eiweißen dieser Art, die vermutlich zur Physiologie der Zellen und auch zur Besonderheit dieser so lange unentdeckten Bakteriengruppe beitragen“, meint Nico Jehmlich, Mitautor der Studie.

Comammox ist überall und wurde übersehen

Physiologische Experimente mit der Kultur und eine Proteom-Analyse brachten die Gewissheit, dass die Nitrospira-Bakterien tatsächlich Comammox sind. Michael Wagner erklärt: "Nitrospira sind seit langem bekannte Nitrit-Oxidierer, die fast überall vorkommen. Dass manche Nitrospira Comammox-Bakterien sind, wurde jahrzehntelang übersehen." Als die Comammox-Nitrospira enttarnt waren, konnte das Team ihr Vorkommen in vielen Böden, Gewässern und in Kläranlagen nachweisen. "Mit diesem Befund beginnt ein neues Kapitel der Umwelt-Mikrobiologie", so Wagners Wiener Kollege Holger Daims. "Unser Bild des Stickstoffkreislaufs, der für alles Leben auf der Erde essenziell ist, war offenbar unvollständig. Wir müssen nun die Eigenschaften von Comammox und ihre Bedeutung in der Natur und in Kläranlagen genauer untersuchen."

Die Arbeit an der Studie über Comammox wurde vom Wissenschaftsfonds (FWF) sowie vom European Research Council (ERC) gefördert.

Die Wissenschaftler publizieren ihre Ergebnisse in "Nature" gleichzeitig mit Kollegen aus Nijmegen (Niederlande), die ebenfalls Comammox-Nitrospira identifiziert hatten. "Das Team in Nijmegen gehört zu den führenden Experten zum Thema Stickstoffkreislauf. Als wir zufällig erfuhren, dass beide Gruppen die gleiche Entdeckung gemacht hatten, vereinbarten wir, die Publikation unserer Arbeiten zu synchronisieren. Somit haben wir einen unnötigen Wettlauf, wer am schnellsten publiziert, vermieden ", sagt Michael Wagner.

Publikation

"Complete Nitrification by Nitrospira Bacteria":
Holger Daims, Elena V. Lebedeva, Petra Pjevac, Ping Han, Craig Herbold, Mads Albertsen, Nico Jehmlich, Marton Palatinszky, Julia Vierheilig, Alexandr Bulaev, Rasmus H. Kirkegaard, Martin von Bergen, Thomas Rattei, Bernd Bendinger, Per H. Nielsen, Michael Wagner; in Nature, DOI: 10.1038/nature16461

Beteiligte Institutionen:

  • Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
  • Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK)
  • Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
  • Deutsches Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig

Weitere Informationen

Dr. Nico Jehmlich
UFZ-Department Proteomics
Phone: +49 341 235 4767
nico.jehmlich@ufz.de

Prof. Dr. Michael Wagner und Assoz. Prof. Dr. Holger Daims
Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung
Universität Wien
T +43-1-4277-76600 sowie 76604
wagner@microbial-ecology.net
daims@microbial-ecology.net

oder über

Susanne Hufe (UFZ-Pressestelle)
Telefon: +49 341 235-1630

Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg über 1.100 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit fast 36.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 18 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 3,8 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).