Pressemitteilung vom 30. August 2012

Wissenschaftler fordern Politiker auf, sich der Maßstäbe im Naturschutz bewusst zu werden

Glasgow/ Leipzig. Vielfalt ist ein zentrales Element aller Ebenen des Lebens, von einzelnen Genen bis zu ganzen Ökosystemen. Naturschutz muss daher auch auf der entsprechenden Ebene oder Skala angebunden werden. Maßstabsgerechtes Handeln stellt sich als ein kritisches neues Thema in der Naturschutzpraxis heraus. Darauf haben Wissenschaftler auf dem 3. Europäischen Naturschutzkongress (European Congress of Conservation Biology / ECCB) hingewiesen, der in Glasgow vom 28. bis 31. August 2012 stattfindet.

Feuchtwiese bei Leipzig

Feuchtwiese bei Leipzig. Viele natürliche Lebensräume mit wichtigen ökologischen Funktionen sind nur noch auf kleine Areale beschränkt, wie beispielsweise die Feuchtwiese bei Leipzig. Deshalb schlägt Dr. Guy Pe'er vom UFZ vor, dass in der Politik und in Planungswerkzeugen Verbindungen zwischen natürlichen Lebensräumen effektiver berücksichtigt werden, damit möglichst viele Arten sich an den Klimawandel anpassen und mit dem sich verändernden Klima wandern können.
Foto: André Künzelmann/UFZ

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Quendel-Ameisenbläuling (Phengaris arion)

Quendel-Ameisenbläuling (Phengaris arion). Die Raupen des Quendel-Ameisenbläulings durchlaufen einen Teil ihrer Entwicklung im Nest von Ameisen. Er kommt vor allem im Süden Deutschlands vor und ist streng geschützt.
Foto: Chris van Swaay, source Nature Conservation

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"Maßstabsgerechte Forschung" stellt ist daher ein neues, interdisziplinäres Feld , auf dem Forscher Konzepte, Analysen und Werkzeuge für die Maßstäbe, in denen diese verwendet werden, anpassen könnten. Politische Entscheidungsträger müssen ihrerseits dafür sorgen, dass sie ihre Entscheidungen zu ökologischen Problemen auf den relevanten administrativen und räumlichen Skalen lösen.

Die Wissenschaftler von SCALES, einem großen integrierten Forschungsprojekt im 7. Rahmenprogramm (FP7) der Europäischen Union, haben eine Reihe von Diskrepanzen festgestellt zwischen dem Maßstab, in dem Biologen arbeiten, um die biologische Vielfalt zu schützen, einerseits und der Notwendigkeit für die Umsetzung maßstabsbasierter Ansätze anderseits. Dies betrifft die Politik und die Verwaltung vor allem bei der Gestaltung von Natura 2000 und Grüner Infrastruktur sowie der Überwachung der biologischen Vielfalt.

Diese Bedenken und neue Erkenntnisse wurden auf einem SCALES-Symposium während des 3. Europäischen Naturschutzkongresses (ECCB) in Glasgow vom 28. bis 31. August 2012 diskutiert. "Es ist lange bekannt, dass Maßstabsfragen eine wichtige Rolle in der ökologischen Forschung spielen. In den letzten Jahren wird jedoch zunehmend klar, dass Maßstabsbewusstsein auch entscheidend ist bei der Gestaltung und Durchführung der Naturschutzpraxis. Naturschutz in einer sich rasch verändernden Welt erfordert systematische und dynamische Ansätze, um die Zeit von Forschungsergebnissen in die Umsetzung der Politik zu verkürzen“, eröffnete Dr. Klaus Henle vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig und Koordinator des SCALES-Projektes die Diskussion.

Prof. William Kunin von der Universität Leeds (Großbritannien) fügte hinzu: "Die Politik sollte sich nicht nur auf den Artenschutz konzentrieren (von Wissenschaftlern „Alpha-Diversität“ genannt), sondern auch auf Veränderungen in der Artenzusammensetzung von einem Lebensraum zum anderen (von Wissenschaftlern „Beta-Diversität“ genannt). Die Fokussierung auf Beta-Diversität, also der Schutz der Systeme statt einzelner Arten, würde sicher die Wirksamkeit der Maßnahmen verbessern.“

Dr. Henle zeigte, dass das Problem von Veränderungen auch zeitkritisch ist: „Zum Beispiel gibt es deutliche Unterschiede in den Bereichen, die als schützenswert eingestuft wurden, abhängig davon, in welchem Jahr die Daten erhoben wurden. Daher werden selbst intelligente Programme zur Auswahl von geschützten Bereichen scheitern, wenn sie nicht die Veränderungen der Artenverteilung und -zusammensetzung zwischen den Jahren berücksichtigen.“

Dr. Guy Pe'er vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) schlägt vor, dass "Verbindungen zwischen den verbliebenen kleinen Arealen der natürlichen Lebensräume effektiver in der Politik und in Planungswerkzeugen berücksichtigt werden sollten, wenn wir es Arten ermöglichen wollen, den Klimawandel zu überleben. Wenn die natürlichen Lebensräume so zerstückelt bleiben wie bisher, dann werden viele Arten einfach nicht in der Lage sein, mit dem sich verändernden Klima zu wandern." Viele Wissenschaftler sind sich des Problems bewusst, aber meist stehen die Verbindungen zwischen den Lebensräumen nicht im Mittelpunkt der politischen Entscheidungsträger und Planer auf größeren Skalen. Neue individuenbasierte Simulationsmodelle von Guy Pe'er und Greta Bocedi sind Werkzeuge, um diese Lücke zu schließen und Fehler beim Wechsel von lokalen Studien zu den großen Skalen von Bedrohungen zu vermeiden.

Dr. Szabolcs Lengyel und sein Team von der University of Debrecen (Ungarn) präsentierte einen Überblick über die Literatur, die untersucht, wie bestimmte Strategien für bestimmte Maßstäbe geeignet sind. Obwohl sie ein allgemein wachsendes Bewusstsein für Maßstabsfragen im Naturschutz gefunden haben, gibt es immer noch deutliche Lücken. Zum Beispiel basieren das Management oder die Wiederherstellung von Lebensräumen selten auf gründlichen Planungen und es besteht ein Mangel an Naturschutzplanung, die auf Ökosystem-Dienstleistungen abzielt. Die Ergebnisse der Studie fordern Naturschützer und politische Entscheidungsträger auf, maßstabsgerechte Ansätze zu entwickeln - vergleichbar mit Zellbiologen, die auch unterschiedliche Vergrößerungsmaßstäbe bei ihren Mikroskopen verwenden, je nachdem, was sie untersuchen wollen.

"Die größte Kluft zwischen Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern ist vielleicht der Geschwindigkeitsunterschied. Wir müssen schneller arbeiten und die Ergebnisse der Praxis zur Verfügung stellen. Die wissenschaftlichen Arbeiten werden ihr wichtigstes Zielpublikum nicht erreichen, so lange die Zeit bis zur Veröffentlichung zu groß und die Sprache zu technisch sind und die Ergebnisse nur in Fachzeitschriften wenigen Empfängern zu Verfügung stehen. Stattdessen müssen wir viel schneller kommunizieren sowie unsere Daten und Erkenntnisse viel offener bereitstellen", schloss Dr. Henle, der auch Chefredakteur von "Nature Conservation", einer im Internet allgemein zugänglichen Zeitschrift, ist.

Dr. Ljubomir Penev von der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften kündigte zusammen mit Dr. Klaus Henle die Einführung der Zeitschrift "Nature Conservation" an als ein Mittel, die Kluft zwischen Naturschutzforschung und -praxis mit innovativen Veröffentlichungs- und Verbreitungstechnologien zu überbrücken. Die Zeitschrift ermutigt Wissenschaftler, nicht nur Artikel zu biologischen Themen einzureichen, sondern auch zu ethischen, sozialen, sozio-ökonomischen, rechtlichen und politischen Themen im Zusammenhang mit dem Management und der Nutzung von Biodiversität und Ökosystemen.

Weitere Informationen

PD Dr. Klaus Henle / Dr. Guy Pe’er
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Telefon: 0341-235-1270, -1646
PD Dr. Klaus Henle
Dr. Guy Pe’er

oder

Tilo Arnhold (UFZ-Pressestelle)
Telefon: 0341-235-1635

Links

Konferenz 3rd European Congress of Conservation Biology ECCB2012 (28. bis 31. August 2012 in Glasgow)
www.eccb2012.org

EU-Forschungsprojekt SCALES
www.scales-project.net
SCALES (2009-2014) steht für "Sicherung der Erhaltung der biologischen Vielfalt über administrative Ebenen und räumliche, zeitliche und ökologische Skalen hinaus" und ist ein europäisches Forschungsprojekt. Finanziert durch das 7. EU-Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung (RP7) sucht SCALES nach Möglichkeiten, um Fragen des Maßstabs besser in Politik, Entscheidungsfindung und Management der biologischen Vielfalt in der EU zu integrieren.

SCALES Policy-Brief 2 und 3:
www.scales-project.net/img/uplf/SCALES_Policy_Brief_2.pdf
www.scales-project.net/img/uplf/SCALES_Policy_Brief_3.pdf

Nature Conservation – a new dimension in Open Access publishing bridging science and application
www.pensoft.net/journals/natureconservation/article/3081/abstract/

Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg über 1.000 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit über 33.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 18 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 3,4 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).