Standpunkt vom 9. September 2010

Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke - Brücke in die Vergangenheit

Von Prof. Dr. Erik Gawel

Deutlich längere Laufzeiten für Atomkraftwerke behindern energiewirtschaftliche und umweltpolitische Ziele

Nun liegen die lange angekündigten Laufzeitverlängerungs-Beschlüsse auf dem Tisch: Während von dem immer wieder in Aussicht gestellten und längst überfälligen Energiekonzept allenfalls Konturen sichtbar sind, werden bei der weiteren Nutzung der Atomkraft klare Fakten geschaffen. Für die zugunsten einer Laufzeitverlängerung ins Feld geführten Vorzüge wird vor allem das Bild von der "Energiebrücke" bemüht. Diese müsse in das Zeitalter der erneuerbaren Energien verlängert werden, um Friktionen bei der Bezahlbarkeit und der Sicherheit der Stromversorgung abzufedern. Das klingt charmant und vernünftig, würde doch eine sofortige Entfernung der Kernenergie aus den Erzeugungskapazitäten, insbesondere wenn gleichzeitig die klimaschädliche Kohle nicht ausgebaut werden soll, in der Tat zu fragwürdigen Importen und Preisrisiken führen.

In dem Augenblick aber, wo unser Strommix 40 Prozent oder mehr Anteil der erneuerbaren Energien aufweist, gibt es kaum noch sinnvollen Raum für die von allen Seiten langfristig als Auslaufmodell gesehene Kernenergie. Geht der Ausbau der erneuerbaren Energien in ähnlichem Tempo voran wie in den vergangenen Jahren, könnte jedoch die 40-Prozent-Marke bereits im Jahre 2020 in greifbare Nähe rücken. Nach dem derzeit geltenden Ausstiegspfad ginge wohl um 2025 das letzte AKW vom Netz. Warum also überhaupt Laufzeiten verlängern? Die "Brücke" in die Energiezukunft - sie ist mit dem Ausstiegsszenario von 2000 längst gebaut! Entscheidend wird vielmehr sein, wie die Energielandschaft am Ende der Brücke aussehen wird. Und zu deren notwendiger Umgestaltung steht die "Brückenverlängerung" ersichtlich in einem Spannungsverhältnis.

Worauf es heute ankommt, sind klare Weichenstellungen der staatlichen Rahmenbedingungen, um die ehrgeizigen Ausbauziele für erneuerbarer Energien zugunsten eines nachhaltigen Klimaschutzes in die Tat umzusetzen: Wir brauchen langfristige Investitionssicherheit für Erneuerbare, klare Genehmigungsverfahren für Offshore-Windanlagen, den Ausbau grundlastfähiger Biomasse-Verstromung, ertüchtigte und erweiterte Leitungsnetze sowie einen modernisierten Kraftwerkspark, der mit den schwankenden Einspeisungen von Wind- und Sonnenenergie zurechtkommt. Und wir brauchen innovative Speichertechnologien zur Überbrückung diskontinuierlicher Stromproduktion ebenso wie funktionierenden Wettbewerb im Strommarkt, der diesen nötigen Strukturwandel kraftvoll antreibt.

Die jetzt gefassten Beschlüsse tragen zu diesen notwendigen Weichenstellungen bedauerlicherweise wenig bei: Mit den Verlängerungsszenarien ist ein Weiterbetrieb der neueren Kernkraftwerke - durch Nutzung von Strommengenverlagerungen - bis jenseits des Jahres 2040 denkbar. Gleichzeitig erklärt die Bundesregierung jedoch das Ziel, 2050 immerhin 80 Prozent der Stromerzeugung aus regenerativen Quellen zu beziehen. So sieht freilich kein konsistentes Energiekonzept aus. Aus netztechnischen Gründen brauchen regenerative Quellen kurzfristig regelbare Grundlast-Partner, zum Beispiel Gas- und Dampf-Kraftwerke. Die völlige Umgestaltung von Kraftwerkspark und Netztechnologie wird aber um so weniger wirtschaftlich und damit wahrscheinlich, je länger und je stärker nicht-regelbare Grundlastkraftwerke die Netzeinspeisung blockieren. Die Perpetuierung des Erzeuger-Oligopols um die "großen Vier" der Stromerzeugung trägt ebenfalls nicht zur nötigen Belebung des Erzeuger-Wettbewerbs bei. Auch werden so die bereits getätigten oder noch beabsichtigten Investitionen kommunaler Stadtwerke in innovative Technologen entwertet. Die Laufzeitverlängerung gerät damit zum falschen Signal, dass die traditionelle Stromwirtschaft mit all ihren Unvereinbarkeiten zu einem modernen Energie-System der Zukunft erst einmal auf Jahrzehnte weiter Bestand hat.

Notwendig ist die "Brückenverlängerung" energie- oder klimapolitisch ohnehin nicht: Weder ist die Versorgungssicherheit jenseits von 2025 gefährdet noch dürfte durch die Verlängerung von Kernenergielaufzeiten eine merkliche Strompreisdämpfung gelingen: Auf den Spotmärkten bestimmt ohnehin das letzte (und damit teuerste) Kraftwerk, das zur Bedienung der Nachfrage erforderlich ist, den einheitlichen Preis. Dass die künftige Brennelementesteuer ohne preisliche Überwälzung an die öffentliche Hand abgeführt wird, steht angesichts der (gefestigten) Marktmacht der Betreiber ohnehin nicht zu erwarten. Auch anspruchsvolle Klimaschutzziele können ohne Zusatzlaufzeiten durchaus noch bezahlbar erreicht werden - dies hat gerade auch die aktuelle Laufzeitstudie der Bundesregierung erneut unterstrichen. Langfristig sind die ökonomischen Belastungen vor allem durch ausgereifte und wirtschaftlich nutzbare erneuerbare Energien und durch funktionierenden Wettbewerb auf dem Strommarkt in Grenzen zu halten. Das Zeitalter "billiger" Energie gehört ohnehin der Vergangenheit an.

Während so die zusätzlichen Nutzen einer Laufzeitverlängerung fragwürdig sind, schlagen die Kosten um so klarer zu Buche: Eine nach Einschätzung des Umweltsachverständigenrates nicht-nachhaltige Risikotechnologie wird länger als nötig im Erzeugungsmix gehalten und verursacht zudem weiteren Atommüll ohne geeignete Entsorgungsmöglichkeit. Und dem Zeitalter der Erneuerbaren wird faktisch keine Brücke gebaut, sondern ein gewichtiges Hindernis in den Weg gelegt. Für die an den Verhandlungen Beteiligten sind die Laufzeitbeschlüsse freilich nachvollziehbar vorteilhaft; umwelt- und energiepolitische Ziele hätten aber wohl die Beibehaltung des derzeitigen Phasing-out sinnvoller erscheinen lassen.