Pressemitteilung / Sperrfrist bis 26. Februar 2015, 13:00 Uhr

10 Jahre Tagfalter-Monitoring Deutschland

Citizen-Science-Projekt liefert wichtige Langzeitdaten zur Biodiversität

Leipzig. Eines der bekanntesten nationalen Citizen-Science-Projekte, das Tagfalter-Monitoring Deutschland (TMD), feiert sein 10-jähriges Bestehen: Seit 2005 erfassen Freiwillige an ungefähr 500 Orten in Deutschland regelmäßig und mit einer standardisierten Methode Schmetterlinge. Dabei sind bislang über zwei Millionen Falter registriert worden. Die gesammelten Daten zeigen nicht nur wichtige langfristige Trends in der Bestandsentwicklung der beobachteten Arten, sie erlauben auch Rückschlüsse auf Umweltveränderungen. Die Erkenntnisse sind in zahlreiche Studien und Publikationen eingeflossen, etwa den Weltklimabericht des IPCC. Das Tagfalter-Monitoring Deutschland wird vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) wissenschaftlich koordiniert und in enger Kooperation mit der Gesellschaft für Schmetterlingsschutz e.V. (GfS) und der Online-Plattform Science4you organisiert.

Hauhechel-Bläuling. Foto: Erk Dallmeyer

Für den Hauhechel-Bläuling (Polyommatus icarus), die mit Abstand häufigste Bläulingsart in Deutschland, lässt sich über die gesammelten TMD-Daten ein Rückgang der Bestandentwicklung statistisch belegen.
Foto: Erk Dallmeyer

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Tagfalter Monitoring Deutschland (TMD). Foto: André Künzelmann/UFZ

Im Rahmen des Tagfalter Monitoring Deutschland (TMD) haben seit 2005 über 600 Freiwillige zirka 2.250.000 Individuen registriert und liefern damit eine wichtige Grundlage für die Wissenschaft.
Foto: André Künzelmann/ UFZ

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Mit einer wissenschaftlichen Tagung und einem Zählertreffen begehen in den kommenden Tagen Bürgerforscher und hauptberufliche Wissenschaftler dieses 10-jährige Jubiläum. Am 26. und 27. Februar findet dazu ein wissenschaftliches Symposium statt. Am Samstag, dem 28. Februar, treffen sich die Ehrenamtlichen, um sich auszutauschen und eine Bilanz der ersten zehn Jahre zu ziehen.

Ziele des TMD
In Deutschland gibt es etwa 3.700 Schmetterlingsarten, von denen allerdings der überwiegende Teil zu den Nachtfaltern gezählt wird. Das Tagfalter-Monitoring beschränkt sich auf die etwa 150 tagaktiven Arten (ohne die alpinen Spezies) und hat sich zum Ziel gesetzt, die großräumige Bestandsentwicklung der Populationen zu erfassen. Für die Wissenschaft stellen diese Daten einen einmaligen Datensatz dar. Denn sie bieten die Chance, einen umfassenden Einblick in die langfristigen Veränderungen der Populationen einer Tiergruppe zu erhalten. Dieser Arbeitsaufwand ist nur durch die Hilfe vieler ehrenamtlicher Zählerinnen und Zähler zu bewältigen. Die Wissenschaftler nutzen die Daten, um langfristige Bestandsentwicklungen zu analysieren und die aktuelle Gefährdungssituation der Arten abzuleiten. Da gleichzeitig auch Informationen zu den Lebensräumen erfasst werden, sind Habitatmodellierungen auf verschiedenen Skalen möglich. Durch die Kombination der Tagfalterdaten mit Klima- und Landnutzungsinformationen kann der Einfluss von Witterung und Klima und von anthropogenen Eingriffen auf das zeitliche Auftreten einer Art im Jahr sowie die Verbreitung und Häufigkeit der Arten erforscht werden.
Das regelmäßige und methodisch standardisierte Zählen von tagaktiven Schmetterlingen hat in Europa Tradition – seit 1976 in Großbritannien, seit 1990 in den Niederlanden. Mittlerweile werden nach denselben Standards in 16 Ländern Europas (und darüber hinaus) Falter erfasst. Die Daten sind also europaweit vergleichbar.

Tagfalter als Indikatoren
Tagfalter erfüllen eine Reihe wichtiger Kriterien, um als wirkungsvolle Indikatoren für Umweltveränderungen oder Änderungen der Biodiversität herangezogen zu werden. Vor allem reagieren sie schnell auf Umweltveränderungen, etwa des Klimas oder der Landnutzung. Begründet ist das in ihrer Lebensweise, die sich durch kurze Entwicklungszeiten, hohe Reproduktionsraten und teils sehr spezifische Habitatansprüche auszeichnet. Hinzu kommt, dass dank der langjährigen Untersuchungen in verschiedenen europäischen Ländern der Wissensstand zur Entwicklung der Bestände von Tagfaltern sowie zu den verschiedenen Möglichkeiten der Auswertung von Monitoringdaten sehr gut ist.

Ergebnisse international
Seit 2005 haben über 600 ehrenamtliche Zähler fast 900.000 Einzelmeldungen mit insgesamt zirka 2.250.000 Individuen registriert. Die über diese Daten gewonnenen Erkenntnisse sind in zahlreiche internationale Studien, Publikationen und Berichte eingeflossen. Dazu zählt zum Beispiel der Grünlandindikator der Europäischen Umweltagentur (EEA), der einen starken europaweiten Rückgang der Tagfalterarten auf Wiesen und Weiden zwischen 1990 und 2011 belegt, was vor allem auf Veränderungen in der Landnutzung zurückzuführen ist. Dabei wurden insgesamt Monitoringdaten zu 17 Grünland-Tagfaltern aus 19 Ländern Europas einschließlich Deutschlands ausgewertet. Diese Daten wurden im Juli 2013 vorgestellt und werden im Frühjahr 2015 gerade aktualisiert. Die Daten des Tagfalter-Monitorings wurden auch in einer weiteren Studie der EEA verwendet, die zum Jahreswechsel 2014/15 erschienen ist: Eine Auswertung von 103 häufigen Schmetterlingsarten in Europa ergab, dass die Natura-2000-Gebiete im Durchschnitt 16 Arten mehr beherbergen als Gebiete außerhalb ihrer Grenzen. Ein Indiz dafür, dass sich Naturschutzgebiete positiv auf die Artenvielfalt auswirken. Zusammen mit Einschätzungen von Experten gingen die Daten zudem in die Rote Liste der Tagfalter Europas ein, die 2010 von der Weltnaturschutzunion IUCN veröffentlicht wurde und wichtige Grundlage für das Handeln der Behörden in allen Ländern Europas ist.
Mit Hilfe des TMD konnten die Wissenschaftler auch im renommierten Journal Nature Climate Change 2012 eine Analyse zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Vögel und Schmetterlinge veröffentlichen. Ihr Fazit dabei: Im statistischen Mittel liegen Tagfalter 135 Kilometer und Vögel – obwohl vermeintlich mobiler – sogar 212 Kilometer hinter der temperaturbedingten Verschiebung ihrer optimalen Lebensräume zurück. Beide können also mit dem Tempo des Klimawandels nicht mithalten. Diese Studie wurde wiederum als so relevant betrachtet, dass sie in gleich zwei Kapiteln des letzten Weltklimaberichtes des IPCC zitiert wurde, als es darum ging, welche Tier- und Pflanzengruppen wie gut im Vergleich untereinander in der Lage sind, klimatischen Änderungen zu folgen.
Auch für den neu gegründeten Weltbiodiversitätsrat IPBES könnten die Daten der freiwilligen Schmetterlingsbeobachter aus Deutschland und den anderen Ländern interessant sein – etwa für den gerade in Arbeit befindlichen Bericht, in dem es um Bestäuber geht, also auch um Schmetterlinge.

Ergebnisse national
Da Tagfalterpopulationen großen natürlichen Bestandsschwankungen unterliegen, sind seriöse Aussagen zu den Bestandstrends erst nach längeren Zeiträumen von mindestens zehn Jahren möglich und auch nur bei Arten, die vergleichsweise häufig vorkommen. Erste (vorsichtige) Trendanalysen beschränken sich deshalb auf die Zahlen ausgewählter Arten für den Zeitraum von 2006 bis 2013. Ein Rückgang lässt sich zum Beispiel für den Hauhechel-Bläuling (Polyommatus icarus) statistisch belegen. Das ist insofern überraschend und gleichzeitig alarmierend, als dies die mit Abstand häufigste Bläulingsart in Deutschland ist, die als sogenannter Generalist überall in Offenlandschaften vertreten ist. Anders sieht es bei dem ebenfalls weit verbreiteten Schornsteinfeger (Aphantopus hyperantus) aus, der einen positiven Bestandstrend zeigt.
Ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit langer Beobachtungs-Zeitreihen sind die Daten zum Kleinen Fuchs (Aglais urticae), der in den Jahren 2006 bis 2009 bundesweit dramatisch zurückging. In den darauffolgenden Jahren erholten sich die Populationen jedoch rasch und wohin der Trend langfristig tatsächlich geht, wird sich erst nach einer Reihe weiterer Beobachtungsjahre erkennen lassen. Neben den Bestandstrends ist auch die Dynamik der räumlichen Verbreitung verschiedener Arten von wissenschaftlichem Interesse. Da die Landesfläche mit ca. 500 Zählstrecken gut abgedeckt ist, liefert das Tagfalter-Monitoring auch hier aussagekräftige Ergebnisse. Ein Beispiel für eine Falterart, die ihr Areal seit einigen Jahren erweitert, ist der Kurzschwänzige Bläuling (Cupido argiades). Diese kleine Bläulingsart mit den charakteristischen Fortsätzen an den Hinterflügeln ist in Mitteleuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark zurückgegangen, breitet sich aber seit einigen Jahren wieder aus. Die TMD-Meldungen – ausgewertet von 2006 bis 2013 – belegen, dass sich die Art über die Oberrheineben im Südwesten permanent Richtung Nord- und Ostdeutschland ausgebreitet und mittlerweile auch in Brandenburg wieder anzutreffen ist. Eine mögliche Erklärung für diese aktuelle Ausbreitung liefert der Klimawandel.

Hinweis für Journalisten:

10 Jahre Tagfalter-Monitoring Deutschland
am Samstag, 28. Februar 2015, 09:00 bis 17:15 Uhr
im KUBUS des UFZ, Permoser Str.15, 04318 Leipzig

Das Programm sowie ausführlichere Informationen zu Geschichte und Ergebnissen des TMD finden Sie unter
http://www.ufz.de/tagfalter-monitoring/index.php?de=33541

Für den 28. Februar sind Sie herzlich eingeladen. Wenn Sie kommen möchten, bitten wir Sie um eine formlose Anmeldung in der Pressestelle des UFZ via E-Mailpresse@ufz.de.
Vielen Dank.

Publikationen:

Kühn E, Musche M, Feldmann R, Harpke A, Wiemers M, Hirneisen N, Schweiger O und Settele J (2014): Tagfalter-Monitoring Deutschland – Ehrenamt für die Wissenschaft. Forum der Geoökologie 25 (3), 12 – 16
Tagfalter-Monitoring Deutschland – Ehrenamt für die Wissenschaft.

Pellissier V., Schmucki R., Jiguet F., Julliard R., Touroult J., Richard D. and D. Evans (2014): The impact of Natura 2000 on non-target species, assessment using volunteer-based biodiversity monitoring. European Topic Centre on Biological Diversity (ETC/BD) report for the EEA. Technical paper N° 4/2014.
http://bd.eionet.europa.eu/Reports/ETCBDTechnicalWorkingpapers/PDF/Impact_of_Natura_2000_on_non-target_species
Die Untersuchungen wurden durch die Europäische Umweltagentur (EEA) gefördert.

Weitere Informationen:

PD Dr. Josef Settele, Elisabeth Kühn oder Dr. Reinart Feldmann
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Telefon: 0345-558-5263 oder 0341-235-1228
http://www.ufz.de/index.php?de=817
http://www.ufz.de/index.php?de=10387

oder über

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
Tilo Arnhold, Susanne Hufe (UFZ-Pressestelle)
Telefon: +49-(0)341-235-1635, -1630
http://www.ufz.de/index.php?de=640

Weiterführende Links:

Tagfalter-Monitoring Deutschland (TMD)
http://www.tagfalter-monitoring.de

Populationen der Schmetterlinge auf Wiesen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten halbiert (Pressemitteilung vom 23. Juli 2013)
http://www.ufz.de/index.php?de=31854
http://www.eea.europa.eu/highlights/populations-of-grassland-butterflies-decline

Vögel und Schmetterlinge "flattern" dem Klimawandel hinterher (Pressemitteilung vom 9. Januar 2012)
http://www.ufz.de/index.php?de=30100

Alarm für seltene Schmetterlinge in Europa (Pressemitteilung vom 5. Oktober 2011)
http://www.ufz.de/index.php?de=22156

Europas Tagfalter durch Klimawandel ernsthaft bedroht (Pressemitteilung vom 11. Dezember 2008)
http://www.ufz.de/index.php?de=17472

Dynamische Zeiten: Tagfalterfauna Sachsens zeigt Reaktion der Natur auf regionale und globale Veränderungen (Pressemitteilung vom 2. Oktober 2007)
http://www.ufz.de/index.php?de=15183

GEWISS (BürGEr schaffen WISSen), ein 2014 ins Leben gerufenes Konsortium verschiedener Institutionen, welches dazu dient, in verschiedenen Veranstaltungen und Arbeitsgruppen die Implementierung und Stärkung von Citizen Science in Deutschland zu diskutieren und weiterzuentwickeln.
http://www.buergerschaffenwissen.de/

Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg über 1.100 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit fast 36.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 18 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 3,8 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).